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Die Mauer war eine riesige Projektionswand

■ Drei Westberliner PsychotherapeutInnen geben Auskunft über ihre Pilotstudie zu deutsch-deutschen Familien/ Von Porno-Paul und der kleinen Sandra/ Die Westler »kontrollierten« ihre Ostverwandtschaft mit Geschenken, die Ostler hatten dankbar zu sein, doch jetzt brechen die Schemata zusammen

Sie haben eine Reihe von Leuten, die Verwandtschaft in Ost- und Westdeutschland haben, interviewt und die Gespräche unter psychologischen Kriterien ausgewertet. Wie lauten Ihre ersten Ergebnisse? Wie verlaufen die Gefühlsströme zwischen Ost und West?

Eva Jaeggi: Wir haben einige Basiskategorien gefunden, die immer wieder durchgeschlagen haben. Zum Beispiel die Kategorie der Kontrolle. Es geht immer wieder um das Problem: Wer kontrolliert wen? Wer sagt, wer wann kommen kann? Bisher hatte ausschließlich die Westseite die Kontrolle, umgekehrt hat sich die Ostseite sehr stark kontrolliert gefühlt. Manche haben sich zum Beispiel mit den Worten beklagt: »Für ein kleines Paket Kaffee muß man sich in die Seele schauen lassen.« Aber seit die Mauer offen ist, sind auf westlicher Seite große Ängste spürbar geworden. Wir haben immer wieder gehört: Jetzt werden wir überrollt, die fressen mich auf, ich kann mich nicht wehren.

»Ihr wohnt ja gar nicht in einem Schloß!

Angelika Faas: Die Verwandtschaft im Osten war berichtspflichtig, wurde bevormundet, mußte dankbar sein. Und gleichzeitig hatte sie die krudesten Vorstellungen über das Leben im Westen. Eine Kollegin von mir erzählte vom ersten Besuch ihrer Ostverwandtschaft. Ein zehnjähriges Mädchen wunderte sich da ganz laut: »Ihr wohnt ja gar nicht in einem Schloß!«

Eva Jaeggi: Eine weitere wichtige Kategorie, die wir gefunden haben, war die Kategorie der Spaltung. Damit ist die Spaltung in Gut und Schlecht gemeint, wobei sich das jeweilig andere Staatssystem dafür wunderbar eignete. Von West nach Ost wurden Sozialismusphantasien projiziert und die Vorstellung, ihr habt die besseren Menschen, es geht bei euch mitmenschlicher zu. Und von Ost nach West konnte das Schlechte in den Kapitalismus reinprojiziert werden: die Ellbogengesellschaft, keiner kümmert sich um den anderen, es ist so kalt bei euch.

Angelika Faas: Diese Spaltung ist ein Mechanismus, den man aus der Psychopathologie sehr gut kennt und der sehr erleichternd ist. Man kann Gut und Böse trennen oder Versorgung hier und Mangel und Nichtversorgung dort. Doch in dem Moment, wo mit dem Fall der Mauer alte Spaltungen obsolet wurden, traten neue auf. Man sah zum Beispiel plötzlich, daß der reiche Onkel aus dem Westen früher jede Menge Schund mitgebracht hat. Oder man stellte Klischees auf: Wir sind authentisch und gefühlsecht, ihr seid verklemmt...

Thomas Krauß: ...oder genau umgekehrt.

Eva Jaeggi: Solche Spaltungen werden immer gesucht, weil Spaltung einfach ein angenehmer Zustand ist und man sich anstrengende Differenzierungen und Schattierungen sparen kann.

»Jetzt findet der Kampf um die Aufrechterhaltung der Kontrolle statt.«

Normalisieren sich die jetzigen Beziehungen heute, oder treten neue Spaltungen auf?

Angelika Faas: In einer Phase des Wandels ist das Gefühl der eigenen Identität stark bedroht, und deswegen schreien die Leute nach ganz einfachen Orientierungsmustern wie eben solchen Spaltungen. Aber wir wollen diesen Prozeß bewußt über eine lange Zeit beobachten, zwei, drei Jahre lang, um zu sehen, wie lange diese Umbruchphase dauert und wie lange es nötig ist, an diesen einfachen Spaltungen festzuhalten.

Thomas Krauß: Unsere Anfangsthese war die, daß nun ein Kampf um die Aufrechterhaltung der Kontrolle und der Spaltungen stattfindet. Zum Beispiel die Spaltung zwischen guten und schlechten Verwandten. Früher war man verpflichtet, die Ostverwandtschaft zu besuchen, heutzutage lädt man die einen ein und die anderen nicht.

Angelika Faas: Oder auch umgekehrt: Einige Kolleginnen von uns waren früher bei Geburtstagen und ähnlichen Anlässen immer sehr frequentiert von Ostverwandtschaft. Und siehe da: Nun kommt keiner mehr, auch Tante Hildegard nicht...

Eva Jaeggi: Eine andere Kategorie war für uns die Symbiose. Das ist ja auch ein Mechanismus, der einem viel Leid und diffizile Ausgrenzungen erspart. Und hier haben wir auch auf beiden Seiten die kindliche Vorstellung gefunden, jetzt sind wir alle wieder zusammen, und die Erde wird zum Paradies. Die Symbiosephantasien im Osten waren noch stärker, aber auch anders getönt als im Westen. Da gab es etwas, was wir mit dem Begriff Alles-ist-normal bezeichnet haben. Der Tenor: Wir waren doch schon immer zusammen, da ist gar kein Unterschied. Das steht im krassen Widerspruch zu Geschichten, die dieselben Menschen uns kurz vorher erzählt haben: wie sie sich beispielsweise schämen, bestimmte Geschenke anzunehmen.

»Nichts war normal und alles hochkompliziert.«

Angelika Faas: Zum Beispiel das Fahrrad für die kleine Sandra, das eine Westfamilie ihren Ostverwandten bei einem Besuch mitgeben wollte. Beim Abschied wurde es aber vergessen — allerdings nicht von den Ostlern, die nachher krampfhaft überlegt haben: Soll ich es noch mal ansprechen oder nicht? Nein, das könnte so raffgierig aussehen, andererseits könnten die denken, den Schrott wollen wir nicht... Da war nichts normal und alles hochkompliziert. Das Alles-ist-normal war nur der Wunsch, es möge einfach sein.

Neulich erzählte mir eine Bekannte aus dem Osten, wie es war, wenn sie als Kind Westbesuch bekam. Sie war damals etwa neun Jahre und führte Tagebuch, schrieb aber immer nur auf, welche Geschenke mitgebracht worden waren. An die Geschenke kann sie sich noch heute — sie ist jetzt 24 — besser erinnern als an die Gesichter.

Thomas Krauß: Das ging mir umgekehrt auch so. Ich fühlte mich immer funktionalisiert. Ich habe schon gefragt, was wollt ihr denn haben zu Weihnachten. Als dann ganze Listen kamen, dachte ich, das ist einfach unverschämt. Zum Beispiel unser Porno-Paul, der interessierte sich für Elektronik und Pornokassetten, weil er damit in Dresden in einen geheimen Tauschring reinkam. Als Besitzer einer Kassette war man schon mal Crème de la crème.

Angelika Faas: Es wurde Fleisch gegen Fleisch getauscht: Pornokassette gegen Rinderfilets. Für Heftchen gab's nur Koteletts. Meistens schrieb Paul dann im Brief: Wir wünschen uns mal wieder was Privates, und dann wußten wir schon Bescheid...

»Man hat sich gegenseitig beneidet.«

Auf den Straßen und in den Kneipen wird immer sichtbarer: Ossis und Wessis verstehen sich nicht, leiden aneinander oder finden sich gegenseitig unausstehlich. Wenn die Osttante Hildegard den Westonkel Hans seit neuestem so geizig findet und der Hans die Hilde so dumm und zurückgeblieben: Ist das nicht auch in vielen Fällen Projektion, um mit der politisch und ökonomisch unsicheren Situation fertigzuwerden?

Thomas Krauß: Der Spaltungsvorgang ist ja eigentlich ein innerpsychischer Vorgang. Ich spalte selbst auf mit etwas, was ich an mir selbst nicht mag. Und dann habe ich dort den Bösen oder Schmutzigen oder den Porno-Heini und kann schimpfen.

Eva Jaeggi: Beim Thema Versorgung zum Beispiel wurde immer wieder deutlich, daß man sich gegenseitig beneidet: die Ostler die Westler wegen des materiellen Reichtums, die Westler die Ostler wegen ihrer eigenen Fürsorge für sie. Die angebliche Gier der anderen ist auch da nur eine Abspaltung aus dem eigenen Neid, daß man selbst gerne so umsorgt worden wäre.

Thomas Krauß: In jeder Familiendynamik finden wir immer wieder, daß bespielsweise Mütter unbewußt neidisch sind auf ihre geliebten Kinder, weil sie selbst nicht soviel Liebe erfuhren. Die deutsch-deutsche Trennung hat solche ohnehin vorhandenen Spaltungsmechanismen noch einmal erleichtert und extern gesteuert. Die Mauer ist wirklich auch ein Sinnbild für Spaltung. Hier entlang ließ sich bequem spalten, die ganze Nation machte es so.

»Zwischen mir und meiner Familie brauche ich die Rote Armee.«

Was ist denn eigentlich aus den Familien geworden, aus denen einer oder mehrere Angehörige schon vor dem Fall der Mauer nach Westen geflüchtet sind?

Angelika Faas: In diesem Familien herrscht eine hochbrisante Familiendynamik. Viele sind ja aus der DDR mit der Vorstellung geflüchtet, meine Eltern oder meine Verwandtschaft sehe ich nie wieder. Und plötzlich werden sie eingeholt von der Vergangenheit. Mir fällt da eine Familie ein, wo die Tochter sich mit ihrem Kind unter dramatischen Umständen von Eltern und Großeltern getrennt hat. Ein paar Monate später wohnte sie nur einige Straßenzüge entfernt. Jetzt können sie wieder miteinander reden, aber es war für alle Beteiligten ziemlich schwierig, die Kränkung und Verletzung zu überwinden. Umgekehrt sind viele Leute, Studenten vor allem, von Westdeutschland nach West-Berlin gezogen, um den äußeren Abstand zum Elternhaus zu schaffen, der innerlich vielleicht noch gar nicht vorhanden war. Ich habe oft gehört: Zwischen mir und meiner Familie brauche ich die Rote Armee. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Ostfamilien haben eine andere Dynamik

Können Sie eigentlich Unterschiede zwischen West- und Ostfamilien feststellen, was deren psychologische Dynamik anbelangt?

Eva Jaeggi: Wir mußten die Erfahrung machen, daß es in den DDR- Familien, die zu uns in die Therapie kommen, für uns fast unverständliche Problemkonstellationen gibt. Zum Beispiel kam eine Familie, die ihr Kind als auffällig verhaltensgestört bezeichnete — angeblich hatte es ein von der Geburt herrührendes Gehirntrauma. Das Kind war aber einfach recht aufmüpfig und frech in der Schule. Dahinter verbarg sich aber, daß der Vater zu hohen Funktionärskreisen gehörte, wo es als ungeheuer ungehörig galt, wenn die Kinder nicht funktionierten. Der Vater mußte jährlich die Zeugnisse seiner Kinder seinen Vorgesetzten vorlegen. Man kann sich also vorstellen, unter welchem Druck solche Kinder stehen. Andererseits bestand die Gefahr, daß man wegen dieses angeblichen Gehirmtraumas — auf dem die Mutter bestand, von dem der Vater aber nichts wissen wollte — das Kind der Familie wegnahm und in ein Heim steckte. Behinderte Kinder durften in einer sauberen sozialistischen Familie nicht vorkommen.

»50 Prozent der Westdeutschen sind psychisch gestört, 25 Prozent sogar gravierend.«

Was halten Sie eigentlich von der Forderung des Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz aus Halle, die ganzen Ex-DDR-Bürger — von Westbürgern war nicht die Rede — müßten auf die Couch?

Thomas Krauß: Stalinismus führt zu kollektiven psychischen Störungen, das war seine Hauptthese. Das ist ein interessanter Punkt: Die Westmedien stürzen sich alle darauf, obwohl das auch ein bißchen hausbackene Psychologie ist, denn wissenschaftlich ist der Zusammenhang von Politik und Psyche nicht so einfach nachweisbar. Aber: Bisher hat in diesem Zusammenhang niemand die ernstzunehmenden Studien über psychische Störungen in Westdeutschland erwähnt. Das sind wirklich seriöse Untersuchungen — nicht von irgendwelchen Linken, die nachweisen wollen, daß die Gesellschaft kaputt ist, sondern von richtigen Hardcore-Wissenschaftlern, die wertfrei rangehen. Und die haben nun festgestellt, daß in der Bundesrepublik 50 Prozent aller Menschen psychisch gestört sind und 25 Prozent sogar gravierend. Das sind also über 15 Millionen, die unter eine harte Diagnose fallen würden. Daß das niemand thematisierte, zeugt auch von einer massiven Spaltung und Projektion: der böse, böse Stalinimus. Die Mauer war eine große Hilfe für viele psychische Mechanismen. Deshalb sind die jetzigen Identitätskrisen auch so heftig.

»Identität ist erst möglich, wenn Auseinandersetzung möglich ist.«

Wurde die Wiedervereinigung im Osten nicht auch deshalb gefordert, um die eigene, unangenehme Geschichte loszuwerden, um in einem neuen Ganzen abtauchen zu können? Die im Westen deswegen unterstützt wurde, weil Faschismus und Stalinismus gleichgesetzt werden? Nach dem Motto: Wenn wir mit dem einen abschließen, dann können wir auch mit dem anderen abschließen.

Angelika Faas: Das sehe ich auch so. Und umgekehrt herrscht die Angst: Wenn wir das eine aufarbeiten, dann müssen wir das auch mit dem anderen tun. Wenn Stasi-Akten geöffnet werden, dann auch Naziakten.

Eva Jaeggi: Wir als Psychologen möchten dazu sagen: Symbiose ist immer ungesund, Intergration ist immer gesund. Das eine ist ein besinnungsloses Ineinanderstürzen, was hinterher zu riesigen Abgrenzungsproblemen und Haß führt. Das andere ist ein langsames Austesten: Was braucht man voneinander, was nicht, was kann man geben, was nehmen?

Thomas Krauß: Identität ist nichts Festes, sondern eine dynamischer Prozeß. Sie zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, in kritischen Situationen dazuzulernen. Also ist Identität eigentlich jetzt erst möglich, weil auch Auseinandersetzung jetzt erst möglich ist. Das ist das Positive.

Dabei kann aber auch passieren, daß nun einiges auseinanderfällt, was die Mauer früher zusammenhielt. Zum Beispiel bei Liebesbeziehungen zwischen Ost und West, die nun großteils auseinanderkrachen, seit die Mauer offen ist und die Leute entdecken, daß sie es miteinander gar nicht aushalten.

Thomas Krauß: Das waren diese schizoiden Beziehungen, wo Menschen sich gar nicht wirklich aufeinander einlassen, sondern Kontrolle ausüben wollen — vor allem von West nach Ost.

Nach dem Muster: Ich konnte nicht kommen, die Grenzer haben mich nicht reingelassen...

Thomas Krauß: Genau. Wenn ein Westler sich in den Osten verliebte, dann hatte das seine Gründe. Ein Distanzbedürfnis vor allem, das nichts mit Zynismus zu tun haben muß.

Eva Jaeggi: Oder ein unbewußtes Bedürfnis nach Dramatik. Mit großem Plakat herumlaufen, am Checkpoint Charlie warten... das ist auch ein modernes Abenteuer. Die unerfüllte Liebe kann einen jahrelang mit dem Sinn des Lebens erfüllen. Und das ist jetzt perdu... Interview: Ute Scheub,

CC Malzahn

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