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Die Liebenden vom East Village

■ Der New Yorker Underground-Film What About Me: Dokument der Vertreibung und Liebesgeschichte unter Obdachlosen

Am Anfang und am Ende steht eine Tote. Ein junges Mädchen aus einer anderen Zeit radelt, gefolgt von ihrem Hund, durch den Wald. Doch diese Reminiszenz an die kindliche Phantasie aus The Wizard of Oz wird sehr schnell gebrochen. Von Ferne grüßen die Friedhofsstatuen, die Kamera weht die herbstlichen Blätter auf und Dorothy zerschellt mit einem Schrei auf einem Stein. Die sorglosen Kindertage, das legt What About Me von Rachel Amodeo nahe, sind vorbei.

Doch in solchen Fällen hilft entweder ein Zauberer oder ein Engel. Eine Engelsstimme aus dem Off klärt dem wiedergeborenen Baby seine neuen Lebensumstände in Suburbia. Doch auch die Kleinstadt wird sehr schnell unappetitlich und Lisa Napolitano (Rachel Amodeo), inzwischen eine Teenagerin, bricht nach New York auf. Diesen Schwenk machen auch die Bilder mit. Waren es zuvor noch kunstbeflissene Einstellungen von kahlen Baumkronen, wie man sie in den 80er Jahren im New Yorker Underground filmte, so wird die Geschichte des gefallenen Mädchen nun in dokumentarischen Schwarz-Weiß-Bildern gebannt. Das New Yorker East Village wird mit Feuerleitern, zerdellten Mülleimern und Aufsichten in verstellte Blicke mit all den gängigen Stilmitteln einer metropolitanen Verarmung und Vereinzelung sichtbar. Poesie ist in Zeitlupe nur noch Teil des Gedächtnisses.

Immer wieder trifft Lisa die falschen Leute: sie wird bestohlen, mißbraucht und landet schließlich als „Bag Lady“ in der kleinen Obdachlosensiedlung auf dem Tompkins Square Park. Dort kauft ihr der obdachlose Vietnam-Veteran Nick (Richard Edson) eine Puppe ab – womit sie gleichzeitig, das drängt die Symbolik förmlich auf, ihren Kindheitsträumen entsagt und sich auf eine Liebesbeziehung a la Die Liebenden von Pont Neuf einläßt. „Du siehst aus wie die Freiheits-statue“, sagt Rick zu ihr, als sie in einem Heizungskeller Unterschlupf suchen. Doch die Freiheitsstatue ist reichlich lädiert und wird verhaftet.

Insofern erzählt What About Me auch eine metaphorisch aufgeladene Sozialgeschichte des East Villages und wird zu einer kinematographischen Einmischung. Denn Rachel Amodeo geht es um die Auseinandersetzung um den Tompkins Square Park, der 1989 geräumt, geschlossen und renoviert wurde. Neben den zahllosen Obdachlosen kommen in Nebenrollen auch die Bewohner des Villages zwischen eigener Armut und dem Protest gegen die Okkupation der einzigen Grünfläche des Viertels zu Wort.

Daß dabei insbesondere die Regisseurin als Hauptdarstellerin allzu theatralisch in die Gesten greift, soll darüber aber ebenso wenig verschwiegen werden wie die coolen Auftritte des Ex-New-York-Dolls und Iggy-Pop-Weggefährten Johnny Thunders als Bruder, der auch für den zweiten Tod zu spät kommt.

Volker Marquardt

Fr, 28. und So, 30. Juni, jeweils 22.30 Uhr, Alabama

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