: Die Kunst ist ein saurer Hering
Einer, der noch lange zu den „Menschen von morgen“ sprechen wollte: Die Frankfurter Schirn widmet James Ensor eine umfassende Retrospektive
von GISLIND NABAKOWSKI
Wieder ergreift die Schirn in Frankfurt am Main die Gelegenheit, die figurative Kunst zu feiern. In 160 Meisterwerken zeigt sie Groteskes und Tragikomisches von James Ensor. In Deutschland wurde dem skurrilen belgischen Symbolisten (1860–1949) zuletzt 1972 eine Retrospektive gewidmet. Weil man die Bedeutung des Spätwerks weitgehend ausblendete, indem 50 Schaffensjahre fatalerweise unterschlagen wurden, würdigte man Ensor bisher als einen Künstler, dessen beste Schaffensperiode allein ins 19. Jahrhundert fällt. In dem von Ingrid Pfeiffer kuratierten Überblick, der Ensor als Exzentriker und Stilpluralisten präsentiert, wird dieses Bild partiell korrigiert.
Große Entwicklungsstränge, die vielen sich in Brüchen und Verschiebungen entwickelnden Parallelthemen, die die Früh- und Spätphase verbinden, werden aufgefächert. Da Ensor oft einzelne Bildideen in verschiedenen Techniken und zu unterschiedlichen Zeiten ausführte, ist die Schau nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert. Seltsame Fantasiegestalten, scharenweise Verkleidete, wandelnde Skelette und hohl in die Welt blickende Masken bevölkern seine Gemälde. Dieser Künstler, der den performativen Blick auf die Endlichkeit des Lebens richtete, bietet dessen Eitelkeiten als ein oft karnevaleskes, immer jedoch als theatralisches Proszenium dar. Gerade erst 28 Jahre war er jung, als sich der schwarz gelockte Mann als Hundertjähriger imaginierte: „Mein Porträt 1960“ – ein fleischlos auf einem Diwan ruhendes Skelett, auf eine Kissenparade gestützt. Neben ihm krabbelt eine Spinne. Ironisch antizipierte er so die Idee des Todes – seines persönlichen überdies – als eine dauerhafte Schwellensituation.
Während die Ausstellung Ensor in seiner Heterogenität zeigt, wird deutlich, wie sehr er in einer historischen Schwellensituation lebte. Er war von William Turners vorimpressionistischem Pinselstrich – viel Rosa und Gelb – deutlich ebenso beeinflusst wie von der hinter- und abgründigen fratzenhaften Dämonie des Hieronymus Bosch und Pieter Breughel d. Ä. Ensor war einer, der einige weit auseinander liegende Phänomene ungewöhnlich drastisch eng verknüpfte. Kannte er doch die Totentänze und die Gesichter der steinernen Dämonen des Mittelalters bestens aus der anonymen Sakral- und Volkskunst. Ihre typischen Gesichtszüge verpasste er dem Bürgertum Belgiens. Die kunstfeindlichen Leute seiner Heimat, der Hafen- und Badestadt Ostende, schalt er als „gehaltlose, brabbelnde Meerestiere“: ein „Austernpublikum“.
Beeinflusst haben seine Bilder die deutschen Expressionisten, französische Surrealisten, die Cobra-Künstler und Paul Klee. Doch Ensor, der 1926 Belgien bei der Biennale di Venezia vertrat, wird in seinen „Schriften“ (1921) und seiner Liebe zu wortmalerischen Kakophonien auch als verkappter Dadaist erkennbar. Es gibt überdies, wie er selbst sagte, Facetten von Kubismus und Abstraktion in seiner Malerei. Medial und stilistisch ist seine Kunst vielgestaltiger und unruhiger, als sie bisher gesehen wurde.
Der ätzende Spott des Mitbegründers der Gruppe „Les XX“ galt in raffinierten Zeichnungen und Gravuren – darin Honoré Daumier, J. J. Grandville, William Hogarth vergleichbar, literarisch auch von E. A. Poe und Heinrich Heine inspiriert – dem Klerus, der Ärzteschaft, dem Militär, den Richtern, den Juristen in roten Roben und – nicht zu knapp – der pingeligen Zunft der Kunstkritiker. Wie er von dieser als „Christus“ und „Märtyrer“ gekreuzigt, sogar regelrecht geschlachtet wurde, ist ein wiederkehrendes Thema.
In Ostende lebte Ensor im Stockwerk über dem von seiner Mutter geführten Souvenirladen. Vielerlei Kuriosa – Masken, ausgestopfte Tiere, Fächer, Chinoiserien, Muscheln – hielten als Requisiten Einzug in seine Bilder. Dies zeigt die Schau auch mit Interieurs, die gezielt neben Gemälden zu sehen sind, worin sich die Farbräume abstrakt verselbstständigen: Seestücke, glühende Sonnenuntergänge, Landschaften, ein Feuerwerk sowie zahlreiche Stillleben (mit Rotkohl und grinsendem Rochen). Daneben wird Ensors Beitrag zur Geschichte der Grafikkunst als bedeutend herausgestellt, zumal er darin „geistige Stacheln“ sah. Insbesondere einige bis an den fernen Bildhorizont als Massenszenen wimmelnde und nervös-arabesk wuselnde Buntstiftblätter, mit denen er sich dem damals gerade in Mode kommenden Massen- und Badetourismus zuwandte, lassen ihn als Vorläufer des Satire-Comics verstehen.
Sehr schön streut die Ausstellung ergiebig erzählende Fotos ein, solche, die ihn kurz vor dem Tod zusammengesunken Harmonium spielend (ausschließlich auf den schwarzen Tasten) zeigen, oder andere, die Ensor, der sich 1883/1888 als junger Mann mit Federhut und Blumendekor kokett in weiblicher Pose travestiert gemalt hatte, hoch oben auf dem Dach als Flöte spielenden Musikanten zeigen, oder als makabren „Aktionskünstler“, in den belgischen Dünen nach Knochenresten verschollener Soldaten grabend. Als dissonanter und bildbesessener Avantgardist war er vom utopischen „Vorwärtschreiten“ beseelt. Als Künstler, der hoffte, „noch lange zu den Menschen von morgen zu sprechen“, engagierte er sich als Tierschützer und im Denkmalschutz für das kleine Gotteshaus bei Mariakerk, auf dessen Kirchhof er begraben wurde. Ein faszinierend materialreicher Katalog verbucht als Pointe: Im Spätwerk lebte Ensor erotische Fantasien aus, durchwanderte einen „Garten der Lüste“. Zuletzt entwickelte er einen leichten Rokokostil.
bis 19. März, Katalog, Hatje Cantz Verlag, 29,80 €