■ Die Kinder der ImmigrantInnen beginnen, sich zu wehren: Die Solinger Wende
Der fünffache Mord in Solingen markiert eine Wende. Die deutsche Gesellschaft befindet sich an einer Weggabelung, die in zwei Richtungen weist. Der erste Weg führt direkt nach „Los Angeles“. Wer bei den dortigen, der rassistischen Politik geschuldeten Krawallen enden will, muß nur so weitermachen wie bisher. Das Werben für eine neue, auf multikulturellen Realitäten fußende Politik stieß bis heute immer auf eine breite Ablehnungsfront. Der Glaube, ein gedeihliches Zusammenleben der verschiedenen Ethnien auf Basis von institutionellen Diskriminierungen gewähren zu können, schien schier unerschütterlich – auch bei vielen, jeglicher rassistischer Neigungen unverdächtigen Menschen.
Solingen hat sie nun von der Realität eingeholt. Wenn es noch eines Beweises für das Scheitern der bisherigen Politik bedurft hätte, die jungen Steinewerfer haben ihn in den ersten Nächten nach dem Mord an zwei türkischen Frauen und drei Kindern erbracht. Die Botschaft hätte klarer nicht ausfallen können: Die Zeit der Duldsamkeit ist vorbei. Vor allem die hier aufgewachsenen Kinder der Immigranten sind nicht länger bereit, sich zu fügen. Gleichberechtigung, Ächtung jedweder ethnischer Diskriminierung und offensive Bekämpfung des Rassenwahns in all seinen Facetten oder ein eskalierender Krieg in den Städten, das ist die Alternative. Wer den gewalttätigen Ausbruch vorwiegend türkischer Jugendlicher auf innertürkische Konflikte und politische Provokateure abzuwälzen sucht, der verschließt erneut die Augen vor der Wirklichkeit. Tatsächlich brach sich in Solingen eine Wut Bahn, die jahrelange Diskriminierung wachsen ließ und nur noch des letzten Anstoßes durch den rechtsradikalen Terror bedurfte. Diese jungen Türken fechten in ihrer Mehrheit – wie ihre Eltern in der Vergangenheit – in Deutschland nicht innertürkische Konflikte aus, sondern die meisten von ihnen kämpfen um eine gesicherte Zukunft in diesem Land. „Jetzt erst recht“ wollen sie bleiben. Soll das Miteinander aller Ethnien gelingen, sind institutionelle und staatsrechtliche Verankerungen und Sicherungen unverzichtbar – dazu zählt die doppelte Staatsbürgerschaft, obgleich längst nicht alle türkischen Jugendlichen viel davon halten. Ausreichend sind gesetzgeberische Antidiskriminierungsregelungen indes nicht. Erforderlich ist eine antirassistische Initiative auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die Zeit zur Propagierung von vermeintlichen Patentrezepten ist endgültig vorbei. Jetzt geht es darum, daß alle gutwilligen Menschen in diesem Land zu einem Neuanfang beitragen. Ein paar liebgewordene Reaktionsmuster müssen auch die Linken dabei über Bord werfen. Es stimmt, die unsägliche Asyldebatte hat den rechtsradikalen Terror ermuntert, geboren hat die Debatte die den Taten zugrunde liegende Gesinnung indes nicht. Da fallen schnelle Schuldzuweisungen leicht auf die Ankläger zurück. Eine Alternative zur Zuwanderungsbegrenzung gibt es nicht. Wer trotzdem weiterhin „Grenzen auf für alle“ fordert, pflegt zwar die radikale Pose, den Boden zum Aufbau einer auf gegenseitiger Achtung beruhenden multikulturellen Gesellschaft bereitet er nicht. Walter Jakobs
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