: Die Justiz als „Instrument der Konterrevolution“
Ein Buch, das hierzulande auf den Markt kommt und das Reizwort „Stammheim“ im Titel führt, hat es schwer und leicht zugleich: leicht, weil das Thema auch noch neun Jahre nach dem Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe kaum verarbeitet ist und deshalb auf erhebliches Interesse stößt - schwer, weil jede Neuerscheinung an dem Aust– Buch gemessen wird. Dessen Maßstab aber paßt für das gerade erschienene Buch des niederländischen Jura–Dozenten und Anwalts Piet Bakker Schut überhaupt nicht. Sein „Stammheim - Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung“ ist eine wissenschaftlich geschriebene Analyse des Prozesses und seines vor allem rechtspolitischen Umfeldes. Ihm kommt es nicht darauf an, eine flott zu lesende, anschauliche Reportage über „wie sie wurden, was sie waren“ zu schreiben. Sein Interesse ist es, exakt und nachvollziehbar zu belegen, daß Stammheim ein politischer Prozeß war, in dem beide beteiligten Parteien, die BRD ebenso wie die RAF, „das Konzept Rechtsstaat gänzlich zur Seite geschoben (haben)“. 14.000 Seiten Protokoll Zu diesem Zweck hat Bakker Schut die 14.000 Seiten Protokoll der Hauptverhandlung gegen „Baader und Co.“, die öffentlich nicht zugänglich sind und deswegen auch ausführlich zitiert werden, ausgewertet. Darüber hinaus hat er Texte der RAF für die Analyse herangezogen und ausführlich die juristische Diskussion über die im Umfeld des Prozesses verabschiedeten ad hoc Gesetze (Verbot der Mehrfachverteidigung, Beschränkung der Anzahl der Wahlverteidiger, Möglichkeit, den Prozeß in Abwesenheit der Angeklagten zu führen, die Möglichkeit des Verteidigerausschlusses) wiedergegeben und bewertet: „Mit Hilfe eigens dazu erlassener Sondergesetze in bestimmte laufende oder bevorstehende Strafprozeße einzugreifen steht in absolutem Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie sie im bundes deutschen Grundgesetz Artikel 19 festgelegt sind.“ Ausführlich geht Bakker Schut auch auf die von der Kontrolle der Verteidigerpost über Ehrengerichtsverfahren, die öffentliche Denunziation bis hin zum Ausschluß reichenden Repressalien gegen die Wahlverteidiger der RAF–Gefangenen ein, die seiner Meinung nach die einzigen waren, die die Strategie des Staates, die Inhaftierten vollständig zu isolieren, hätten durchbrechen können. Gegen die Verteidiger wurde, dem Stammheim–Buch zufolge, auf zwei Ebenen gearbeitet: Mit Hilfe der Presse gelang es, eine öffentliche Kampagne gegen sie als Unterstützer, Kuriere und sogar Mittäter der RAF zu entfachen. Standesrechtlich, in den Ehrengerichtsverfahren beispielsweise, spielte dagegen etwas ganz anderes eine Rolle: Hier ging es vor allem darum, den Anwälten politische Äußerungen zu untersagen. RAF als Bedrohung der Machtverhältnisse Bakker Schut orientiert sich insgesamt in der Bewertung des Prozesses an den Kategorien von Otto Kirchheimers Standardwerk „Politische Justiz“: Politische Justiz habe nicht nur „die Bejahung und Bekräftigung des gesellschaftlichen Ordnungssystem vermittels der öffentlichen Gerichtsverhandlung“ zum Ziel, sondern sie beabsichtige mehr noch „die wie auch immer geartete Beeinflussung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse“. Damit ist Bakker Schut bei seiner eigentlichen, in der Einleitung auch von Klaus Croissant unterstützten These, daß die Justiz in Stammheim zum „Instrument der präventiven Konterrevolution“ gemacht wurde. Dafür braucht es als Baustein die Behauptung, daß „die RAF als kleine, aber militante Guerillaorganisation u.a. aufgrund von Meinungsumfragen als ernstzunehmende potentielle Bedrohung der bestehenden Machtverhältnisse gesehen wurde“ (S.181) und deshalb die „Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse“ durch eine Aburteilung erreicht werden sollte. Grundlage für die Behauptung, daß die RAF eine potentielle Bedrohung darstellte, sind mehrere Meinungsumfragen von Allensbach und Emnid aus dem Jahre 1971, in denen zehn Prozent der Bundesbürger sich zu RAF–Sympathisanten erklärten und 25 Prozent der 19– bis 24–jährigen sich sogar bereiterklärten, RAF–Mitglieder vor der Polizei zu verstecken. Leider werden weder die genauen Fragen noch die Auftraggeber der Studien benannt - sicher läßt sich aus ihnen allein zwar ableiten, daß die RAF 1971 mehr Sympathien hatte als heute, aber wohl kaum, daß zu ihrer Bekämpfung „Instrumente der Konterrevolution“ benötigt wurden. Keine Kritik an der Guerilla Überhaupt fällt auf, daß zwischen den spannenden Analysen der Maßnahmen des Herrschaftsapparates und der recht unkritischen Auseinandersetzung mit den RAF Positionen und Strategien (zum Beispiel den Hungerstreiks) eine Diskrepanz besteht. Das schmälert den Wert des Buches als materialreiche Analyse des politischen Prozesses in Stammheim aber nur geringfügig. Schließlich ist es Bakker Schut, der für sich nicht den Status eines neutralen Wissenschaftlers, sondern den eines „teilnehmenden Beobachters“ beansprucht, gelungen, den systematischen Zusammenhang zwischen Verschärfung der Gesetze während des Prozesses, einem harten Vorgehen gegen die Verteidiger und den Bedingungen der Isolationshaft herauszuarbeiten. Im Gegensatz zum Aust–Buch läßt sich der Gang von Bakker Schuts Argumentation auch nachvollziehen - der Preis für die Erfüllung dieses wissenschaftlichen Anspruchs ist allerdings nicht niedrig. „Stammheim - Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung“ ist kein leicht zu lesendes Buch. Interesse an juristischen Vorgängen ist eine zweite Voraussetzung um den 541 Text– und 135 Anmerkungs– und Literaturverzeichnisseiten etwas abgewinnen zu können. Piet Bakker Schut, Stammheim - die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung, Neuer Malik Verlag, 685 Seiten, 39.80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen