■ Die Indvidualisierung geht zusehends auf Kosten der Familien. Väter, die keinen Unterhalt zahlen, sind dafür nur ein Symptom: Wer sorgt für die Kinder der Freiheit?
Auf Winterschuhe muß Dennis dieses Jahr verzichten. Die kärglichen Unterhaltsleistungen vom städtischen Jugendamt geben dies nicht her. Seit Monaten zahlt sein arbeitsloser Papa keinen Unterhalt mehr. Von seinen Einkünften aus der Schwarzarbeit als Handwerker gibt er trotz allem Bitten und Drohen nichts ab.
Eine alltägliche Szene. Die Scheidungswelle der letzten 30 Jahre hat die Zahl der Alleinerziehenden nahezu verdoppelt. Schwer vermittelbar auf dem Arbeitsmarkt, kaum Chancen auf bezahlbaren Wohnraum und von vielen Zeitgenossen immer noch argwöhnisch betrachtet, kumulieren bei den Ein-Eltern-Familien soziale Benachteiligung und materielle Armut. Oft bleibt nur der Gang zum Jugend- und Sozialamt, weil lediglich eine Minderheit der über eine Million Trennungsväter ihren Unterhaltsverpflichtungen nachkommt. Heute sind ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger Kinder aus zerrütteten Familien. 1964 war nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren von Sozialhilfe abhängig, 1990 jedes 11., 1994 schon jedes 9. Kind.
Das heute im Bundestag behandelte Unterhaltsrecht unternimmt noch nicht einmal einen Anlauf, dieser „neuen Armut“ zu begegnen. Zwar erfolgt immerhin eine rechtliche Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder. Unterhaltsansprüche sollen zukünftig in einem vereinfachten Verfahren mit altersmäßig gestaffelten Regelsätzen durchgesetzt werden. Doch diese Beiträge liegen weiterhin unterhalb des Existenzminimums. Und durchgreifende Maßnahmen gegen den Umstand, daß viele ihren Unterhaltspflichten nicht mehr nachkommen können oder wollen, sucht man vergebens.
In den USA hat die Entwicklung zur vaterlosen Gesellschaft längst einen politischen Streit um die Familienpolitik entfacht. Der Kommunitarist Amitai Etzoni will beispielsweise Kinderschutz als Eheschutz praktizieren, indem Scheidungen erschwert werden. Doch dies verkennt, daß eine Trennung der Eltern vielfach auch für das Kind besser ist als die Fortsetzung einer zerrütteten Ehe. Hierzulande aber findet nicht einmal eine Diskussion um die Familienpolitik statt. Besonders in linksliberalen Kreisen beschönigt man vielmehr gern die Folgen der Scheidungswelle für die Kinder.
Typisch für diese Sicht ist die Argumentation des Soziologen Ulrich Beck. Zwar weiß er um die Hilflosigkeit des Kinderschutzes in der vollendeten Marktgesellschaft, deren Mobilitätszwänge familiäre Bindungen auflöst. Aber er und der politische Mainstream von CDU/CSU bis zu den Grünen hoffen, allein durch eine Anpassung der Familienstrukturen den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Multiple Elternschaften, wo Väter und Mütter sich um die Kinder aus ihren verschiedenen Lebensabschnittspartnerschaften kümmern, oder Ein- Eltern-Familien bilden demnach die „Patchwork-Familie“ der Zukunft. Mit Hilfe eines Mindesteinkommens für alle Bürger und verbesserten Möglichkeiten einer Doppelbeschäftigung der Eltern will Beck die Folgen der Verflüssigung tradierter Rollenbilder kompensieren.
All dies setzt voraus, daß auch bei einer „flexibleren“ Elternschaft deren Verantwortungsbereitschaft gesellschaftsweit gewahrt bleibt. Und in der Tat rangiert die Familie in der Werteordnung nach wie vor ganz oben. Engagierte Gruppen wie der „Väteraufbruch für Kinder“ streiten sogar vehement für ein erneuertes väterliches Selbstverständnis.
Doch Becks Traum bunter, nachfamiliärer Elternschaft ist nur für eine durch Bildung, Einkommen und Lebensstandard privilegierte Minderheit lebbar. Denn in anderen Teilen der Gesellschaft geht der Bedeutungsverlust der Familie mit einer Erosion elterlicher Verpflichtungen einher. Zwar kreisen auch in den unteren Schichten die zentralen Lebensziele um Familie und Kinder. Aber sie geraten hier besonders leicht in Konflikt zu Selbstverwirklichungs- und Individualitätsansprüchen. Wo wirtschaftliche Schwierigkeiten und persönliche Probleme der Eltern zusammenkommen, verfängt sich die Liebe zum Kind in einer „Individualisierungsfalle“: Mit der Erziehung überfordert und mit dem eigenen Leben unzufrieden, bilden Kinder für viele, die nach einer Scheidung „ein neues Leben anfangen“, nur noch ein lästiges Relikt einer vergangenen Zeit.
So fehlt ein gesellschaftlicher Grundkonsens, was man Kindern zumuten kann. In Mittelschichtfamilien ist die Liebe zum Kind oft zentraler Lebenssinn und Ersatzreligion, in manchen Broken- home-Milieus herrscht hingegen blanke Gleichgültigkeit. Kinder, die überfordern, werden dort oft wie ein defektes Spielzeug beiseite geschoben. Rund 100.000 in Pflegefamilien oder Heimen untergebrachte Kinder bezeugen diesen Mißstand.
Wenn die Gesellschaft zudem die Einhaltung ihrer eigenen Normen nicht mehr durchsetzt, fördert sie den Zerfall elterlicher Verantwortungsbereitschaft zusätzlich. Wenn Väter keinen Unterhalt zahlen, gilt dies noch immer als „Kavaliersdelikt“. Mittlerweile bezahlt anstelle der Väter der Staat für rund ein Drittel der von Alleinerziehenden betreuten Kinder unter zwölf Jahren. Fast eine halbe Million Kinder wird so staatlich alimentiert. Was ursprünglich als Hilfe „in schwieriger Lebens- und Erziehungssituation“ konzipiert war, ist vielfach zur Regelleistung geworden. Dabei wäre ein Drittel der Väter, die keinen Unterhalt zahlen, dazu in der Lage. Doch statt diese Gelder entschlossen einzutreiben, spart Vater Staat lieber an den Kindern. Denn die staatlichen Unterhaltszuschüsse sind zeitlich befristet und liegen unter dem Existenzminimum.
Wer Kinderschutz ernst nimmt, muß die Idee elterlicher Sorgepflichten durch eine kulturelle Umorientierung wiederbeleben: Es geht darum, persönliche Selbstentfaltung nicht länger höher als soziale Verpflichtungen zu werten. Freilich lassen sich elterliche Verantwortungsbereitschaft ebenso wenig wie Gemeinsinn und Solidarität nicht administrativ verordnen. Sie sind vom Engagement jener abhängig, die dies praktisch vorleben. Politik kann aber insbesondere durch einen finanziellen Kinderlastenausgleich in den unteren Einkommensgruppen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß alle Eltern ihren Sorgepflichten nachkommen können. Ohne Druck von unten werden die Probleme von Kindern weiterhin nur in unverbindlichen Sonntagsreden der Politiker auftauchen. Die Ziele des Kinderschutzes liegen quer zu den erstarrten politischen Lagern von rechts und links, von konservativ und liberal. Harry Kunz
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