: Die Hegemonie der Regeln
SPARPROGRAMME Bleibt Europa der Verlierer, wenn die Linke in Deutschland gewinnt? Womöglich, denn sie verfolgt keine wirklichen Alternativen zur Austeritätspolitik
wurde in Dundee als Sohn eines Metzgers geboren und ist Professor an der Brown University, einer der Eliteuniversitäten der USA. Im Frühjahr erschien sein Buch „Austerity: The History of a Dangerous Idea“ (New York, Oxford University Press 2013).
VON MARK BLYTH
Die Bundestagswahl wirft allen, denen an der Zukunft Europas gelegen ist, zwei Fragen auf: Erstens: Bedeutet ein Sieg der deutschen Linken ein Ende der Austeritätspolitik? Und zweitens: Kann die Linke an der Macht die Eurozone aus der Krise führen?
Die erste Frage wird natürlich durch Koalitionsfragen verkompliziert. Den Umfragen zufolge gibt es keine Mehrheit für SPD und Grüne ohne die Linkspartei. Eine Koalition mit der Linkspartei oder eine rot-grüne Minderheitsregierung hat die SPD jedoch ausgeschlossen. Aber auch für den Fall, dass eine Zusammenarbeit aller drei Parteien möglich wäre, lautet die Antwort vieler Beobachter auf beide Fragen: Nein.
Denn zum einen gibt es zurzeit keine Austerität in Deutschland, nur in seiner Peripherie, und da deren Bewohner nicht in Deutschland wählen dürften, gibt es keinen Grund, sie nicht weiter zu schröpfen. Zum anderen ist eine deutsche Führung Europas aufgrund der Geschichte wenig wahrscheinlich.
Beide Antworten sind wohl richtig, aber aus Gründen, die etwas anders in der deutschen Geschichte begründet liegen als gemeinhin angenommen, nämlich in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und dem Aufstieg der ordoliberalen Wirtschaftstheorie nach 1945.
Keine Nachfragepolitik
Die Börsenkrise von 1873 hatte in Deutschland die Diskreditierung des Wirtschaftsliberalismus britischen Stils zur Folge. Das Kaiserreich schwenkte auf ein staatlich gelenktes Industrialisierungsmodell um. Große Firmen, für deren Risikokapital große Banken bürgten, die wiederum von Staatsgarantien unterstützt wurden und deren Profite auf Exporte und der Konsumzurückhaltung der Bevölkerung basierten, wurden zum deutschen Wachstumsmodell.
Zwei Kriege und die zwischenzeitliche Teilung des Landes haben es nicht verändert. Exporte sind noch immer die treibende Kraft, Konsumzurückhaltung ist weiterhin angesagt.
Dies erklärt auch, weshalb der deutschen Linken der Keynesianismus niemals so recht eingeleuchtet hat. Konsumausgaben bedingen Lohnerhöhungen, die wiederum die Exporte verteuern, was Wachstum und letztendlich Arbeitsplätze beeinträchtigt. Warum also sollte man dies tun? Die SPD hat kaum einmal Nachfragepolitik betrieben, von den 1970er Jahren abgesehen. Aber besonders an die Jahre unter Helmut Schmidt erinnert man sich heute in Deutschland als Zeit, in der die Staatsverschuldung und die Arbeitslosigkeit anstiegen. Dass ohne Nachfragepolitik die damalige Krise weitaus schlimmer ausgefallen wäre, wird kaum gesehen. Deutschland glaubt an Wettbewerbsfähigkeit als dem einzigen Weg zu ökonomischem Erfolg.
Damit wären wir beim zweiten Grund für den deutschen Hang zur Austerität: dem Comeback des ökonomischen Liberalismus im Nachkriegsdeutschland, dem Siegeszug der Freiburger Schule um Walter Eucken. Ihr Ordoliberalismus ist ein seltsames Zwitterwesen. Er hält staatliches Eingreifen für richtig, um Wettbewerb inmitten monetärer Stabilität sicherzustellen. Die Gründung eines Kartellamtes und die Bundesbank erfüllten diese Rolle gut, das deutsche Modell feierte neue Erfolge. Und zwar so sehr, dass andere europäische Länder beschlossen, es mitten in die EU-Architektur zu kopieren: sodass die Kommission stärker als das Parlament ist, die Wettbewerbsfähigkeit – nicht Konsum – das Ziel ist und eine starke Zentralbank vor allem Preisstabilität im Auge hat. Als Konsequenz ersetzen heute in der EU Regeln die politische Führung. Und daher basiert auch das, was wir als Vorschläge für Europas Zukunft sehen, auf immer neuen Regeln, die jeder befolgen soll: neue fiskalische Ziele, Schuldenbremsen und so weiter. Aber Führung durch Regeln zu ersetzen führt zu dem Problem, das der Ökonom Paul De Grauwe als die Idee beschreibt, dass es keinen Bedarf für eine Feuerwehr gäbe, wenn sich jeder an die Regeln zur Feuervermeidung hielte. Es sei denn, dass Feuer aus allen möglichen Gründen ausbricht, nur nicht aus dem Grund, dass sich jemand nicht an die Vorschriften gehalten hat. Genau das aber ist die Ursache, warum wir politische Führung ebenso brauchen wie Regeln.
Aufgrund dieser deutschen Wirtschaftsgeschichte gibt es keinen Anlass zu der Annahme, dass die deutsche Linke – an der Macht – etwas anderes als die Rechte tun würde. Die Austeritätspolitik würde fortgesetzt, eine „Hegemonie von Regeln“ weiterhin die politische Führung ersetzen, die Europa so dringend braucht.
Aber es gibt eine Alternative. Ein Anfang wäre, die immer weiter in die Krise führenden Austeritätsprogrammen zu beenden. Um eine Werbung von Nike zu zitieren: „Just (don’t) do it!“ Frankreich und Portugal wuchsen im letzten Quartal, ebenweil sie ihre Defizitziele verpasst haben. Die Freiburger Ideen und ihre Institutionen haben für Deutschland funktioniert. Aber in ganz Europa können nie alle gleichzeitig einen Exportüberschuss erzielen.
Hilfreich wäre auch, einen Teil der Schulden zu erlassen. Griechenland wird sie niemals zurückzahlen können. Weshalb sollen wir also so tun, als ob?
Das alles ist nicht das gigantische Wachstumspaket für die Krisenländer, das manche empfehlen. Aber es könnte das Leben von Millionen normaler Menschen verbessern. Und das ist schließlich immer noch das wichtigste Argument der Linken.