■ Der Mythos ist etwas Ewiges, und so wurde nach der Silvesterfeier vor sechs Jahren eine Unsterbliche restauriert: Die Göttin war in Reparatur
Es war damals schon ein großes Mißgeschick, daß die griechische Göttin ausgerechnet zur deutschen Einheit unpäßlich war. Aber Silvester 1989, als Dionysos, der Gott des Rausches, als Bierdose reinkarnierte, war sie von allzu vielen bestiegen worden. Die Dame mußte samt Quadriga dringend in die Reparaturwerkstatt.
Aber Vereinigung ohne göttlichen Beistand? Geht denn das? Auch dem damaligen Bundespräsidenten erschien das zu profan. Und so weizsäckerte der von „einem Götterfunken“, der an jenem 3. Oktober in einem jeden Deutschen stecke. Seitdem hat das Mythische Hochkonjunktur. Sogar im Lande der Aufklärung verfärbte sich der mediale Blätterwald mittelalterlich-romantisch. Der Wahlkampf im vorigen Jahr wurde da zum Ritterturnier, und Jacques Chirac selbst trat gar mit einem heraldischen Apfelbaum an und verkündete: Dieser Baum aus dem Garten Eden „ist Zeichen dafür, daß die Zeit kommt, da wir dort wieder eintreten werden“.
Wir befinden uns im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende. Möglicherweise hat das den Schock ausgelöst. Aber das bleiben bloße Mutmaßungen. Diagnostizieren wir einfach: So mancher kritische Zeitgenosse scheint sein historisches Bewußtsein zu verlieren. Hier passierte es im Einheitstaumel. Am Tage vor jenem denkwürdigen 3. Oktober 1990 titelte eine Berliner Tageszeitung voller Pathos: „HEUTE NACHT WIRD DAS TOR ZUM ALTAR DER DEUTSCHEN EINHEIT“.
Schon der Kaiser der Einheit von 1871 tat's nicht ohne die Unsterblichen. Wilhelm I. schickte eine Expedition ins Osmanische Reich, um den Himmelsherrscher Zeus samt marmorner Götterschar wieder aus dem Schutt des Tempelbergs von Pergamon ausbuddeln zu lassen. Per Kanonenboot „Loreley“ kam der griechische Staatsgott unbeschadet in der Reichshauptstadt an. Es hatte sogar Pläne gegeben, den Pergamonaltar – weithin sichtbar – auf das Museumsgelände zu setzen. Zusammen mit den klassizistischen Schinkelbauten und dem Brandenburger Tor sollte er ein Ensemble bilden, sozusagen eine Brandenburger Akropolis im Spree-Athen.
Als ich im Frühjahr des vergangenen Jahres im Pergamonmuseum vor dem steinernen Götterreigen stand, erwachte in mir wieder der Hobbyarchäologe, der schon im Sandkasten jede Scherbe mit einer anderen zu kombinieren wußte und in der Phantasie ganze Städte zum Leben erwecken konnte ...
Die Marmorbrocken – Fragmente von Armen, Rümpfen, Köpfen und Tierkörpern – fügten sich vor meinem geistigen Auge wieder zusammen. Hoch auf dem Tempelberg unter der ägäischen Sonne sah ich wieder die marmornen Götter auf die himmelstürmenden Giganten eindreschen. Die metzelnde Götterschar verfolgte die Ackerbauern, Ziegenhirten und Tagelöhner, die an Feiertagen angstvoll um den Altarfries schlichen, bis in die nächtlichen Alpträume.
Dieses einfache Volk lebte damals noch außerhalb der Zeit in einem ewigen Kreislauf von Geburt und Tod. Es kannte keine eigene Geschichte. Es besaß nur vage Erinnerungen, Geschichten, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden, in denen sich Reales mit der Phantasie des Erzählers vermischte.
Auch die siegreiche Schlacht Pergamons gegen die Gallier – einst Anlaß für den Bau des Dankaltars – verschwamm schon nach wenigen Generationen in der Erinnerung. Und es war nicht mehr klar, ob sie vielleicht doch nur die Erfindung eines phantasiebegabten Erzählers war... Die in Stein gehauene Götterschlacht, die in vollendeter Modellierung und Farbenpracht vom Altar erstrahlte, schien mehr Wahrheitsgehalt zu haben als die umlaufenden – sich oftmals widersprechenden – Geschichten über den Kampf.
Die Götter hatten wieder einmal ihre kühle steinerne Ewigkeit gegen das schwache Gedächtnis der Sterblichen behauptet. Der Sieg wurde in den edlen Palästen mit viel Nektar und Ambrosia gefeiert. Und die Sterblichen draußen im Lande ließ man durch Priester wissen, daß jedem, der sich gegen die himmlische Ordnung des Bestehenden auflehnt, ein gleiches Schicksal widerfahren werde wie den aufständischen Giganten.
Ein paar Jahrhunderte später trat das olympische Personal im Römischen Reich unter neuen Namen an. Der himmlische Herrscher Zeus hieß jetzt Jupiter. Und jedem, der vor diesem allmächtigen Staatsgott nicht in die Knie gehen wollte, drohte die Kreuzigung.
Als Zeus mit seiner metzelnden Götterschar Ende letzten Jahrhunderts in die neue Reichshauptstadt einzog, wurde ihm ein prächtiger Festzug bereitet. Tausende Komparsen waren dazu extra in die antiken Kostüme des pergamenischen Herrscherhauses gesteckt worden. Ein Umzug, so karnevalistisch-bunt wie derjenige, der am 3. Oktober letzten Jahres durchs Brandenburger Tor zog.
Ironie der Geschichte: Der nach Berlin verbrachte Altar zählte zwar in der Antike zu den Sieben Weltwundern, aber er ist gar kein Original, sondern – so wie das Brandenburger Tor – nur Plagiat griechischer Baukunst. Pergamon zählte im 2. Jahrhundert vor Christus zu den wirtschaftlich aufstrebenden Metropolen, und die Unsterblichen sollten auch da nur aushelfen, dem Stadtstaat den Ruf einer Kulturhauptstadt zu sichern. Man hatte damals die besten Bildhauer kommen lassen, um die olympischen Götter – Hunderte Kilometer entfernt von Athen – in teurem Marmor wiederauferstehen zu lassen.
An der Spree waren die Unsterblichen Griechenlands in mühsamer Kleinarbeit wieder zusammengepuzzelt worden. Aus einer Brandenburger Akropolis wurde allerdings nichts, und die Götter landeten schließlich im Museum. Aber die eiserne Lady thront nun wieder samt Quadriga – rundum erneuert – auf dem Tor. Zwecks nationaler Identitätsfindung wurde bei der Restaurierung vor fünf Jahren übrigens ein historisches Auge zugedrückt: Die Göttin bekam die Preußenembleme in die Hand gedrückt. Dabei war das Brandenburger Tor vor 200 Jahren als Friedenstor erschaffen worden, und die Göttin war die Friedensgöttin Eirene. Erst 1814 – nach Krieg und Sieg über Frankreich – war sie zur Siegesgöttin Victoria umgemodelt worden und bekam Eisernes Kreuz und Preußenadler angeschweißt.
Seit dem Jahre eins nach der Einheit hat die göttliche Dame also wieder einen Vogel – den preußischen. Merke: Der Mythos ist eben immer noch etwas Ewiges, Geschichte dagegen nur etwas Historisches. Thomas Giese
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