: Die Gilden des Lichts
Eine Art materialistische Fantasy über das England von gestern, heute und morgen: Ian R. McLeods Debütroman „Aether“
Man stelle sich vor, die „energiehungrigen“ und „erdöldurstigen“ westlichen Industriestaaten würden nicht von fossilen Brennstoffen abhängen, sondern von einer leuchtenden, gasartigen Substanz, Äther genannt. Über diesen Stoff würden so genannte Gilden wachen, deren Mitglieder sich vom Lehrjungen bis zum Meister hocharbeiten, dabei immer mehr Wissen über den Äther erwerben und ihn mit magischen Formeln manipulieren. Man stelle sich ferner vor, die Gilden hätten auch die politische Macht und hielten mühsam den Deckel auf der Unzufriedenheit der unteren Klassen: Schon ist man in der Welt, die Ian R. McLeod in seinem ersten Roman „Aether“ beschreibt.
Der 49-jährige Brite wuchs in den Sechzigerjahren in der Nähe von Birmingham auf. Vielleicht hat er deshalb eine Welt erfunden, die vom Rohstoffabbau geprägt ist, harter Arbeit unter Tage und einer sozialen Schichtung, die naturgegeben scheint. Mit „Aether“ hat McLeod jedenfalls eine Art materialistische Fantasy vorgelegt. Schauplatz ist ein England, das aus verschiedensten Elementen zusammengewürfelt ist. Es fahren Züge und Straßenbahnen, die Industrialisierung ist weit fortgeschritten. In London stehen ehrgeizige, spektakulär beleuchtete Gebäude – vielleicht ein Seitenhieb auf den Skyline-Umbau der letzten Jahre? Während jedoch die High Society in jedem erdenklichen Luxus schwelgt, leben Arbeiter und Unterschichten in Dickens-artigen Slums.
Vor allem aber hat der Äther, der Wohlstand und Industriewunder möglich macht, eine Schattenseite: Direkter Kontakt mit ihm löst Verwandlungen aus. Tiere und Pflanzen mutieren zu bösartigen Schädlingen und auch Menschen, die zu viel Äther ausgesetzt sind, nehmen Schaden. Manche werden zu äußerlich kaum veränderten, aber irgendwie doch nicht ganz menschlichen Wesen; die meisten verwandeln sich in Monster, die von einer euphemistisch „Gilde der Sammler“ genannten Verbindung aus dem Verkehr gezogen werden.
Neben der ökonomischen Auslese kommt so auch eine gewissermaßen biopolitische ins Spiel: Die Verwandelten, „Trolle“ oder „Wechselbälger“ genannt, bilden den Bodensatz der Gesellschaft, über den sich alle anderen erhaben fühlen können – und sich (wohlig) dabei gruseln.
Robert Borrows, Icherzähler und Hauptfigur des Romans, schärft früh sein Bewusstsein für diese Ungerechtigkeiten. In Bracebridge, einer Stadt, die vom Ätherabbau lebt, lernt er Armut kennen und die Folgen des Äthers: Prägend ist die Verwandlung seiner Mutter, die vor Jahren bei einem angeblichen Arbeitsunfall dem Stoff ausgesetzt war und langsam zu einem Grauen erregenden, Kohle fressenden Wesen wird. Nach ihrem Selbstmord geht Robert nach London. Dort schließt er sich einer Gruppe von Revolutionären an und knüpft gleichzeitig Kontakte zur High Society. Immer wieder trifft er Anna Winters, eine junge Frau, mit der ihn etwas verbindet: das Geheimnis um den Ätherunfall in Bracebridge.
Hier wird der Roman zum Thriller, mit dem üblichen „Die Suche nach den Schuldigen führt in höchste Kreise“-Plot. Mit einem wichtigen Unterschied: Am Ende wird nicht systemstabilisierend der Bösewicht zur Strecke gebracht. Vielmehr erkennt der gealterte Robert, dass der „dunkle Meister“, den er gejagt hat, der Äther selbst war. Erkenntnisse wie diese machen den Roman streckenweise zur fast ideologiekritischen Lektüre: Dass die „Light Ages“, wie der Roman im Original heißt, nicht weniger düster sind als das finstere Mittelalter, hätten Horkheimer/Adorno jedenfalls unterschrieben. ULRIKE MEITZNER
Ian R. McLeod: „Aether“. Aus dem Englischen von Barbara Slawig. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, 510 Seiten, 24,50 Euro