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■ Die Geschichte der schmerzvollen Wandlung István EörsisVom Saulus zum Paulus

Nach der zweiten Runde der ungarischen Parlamentswahlen, die der Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei, der „Ungarischen Sozialistischen Partei“, die absolute Mehrheit der Sitze brachte, mischte sich in meinen Kummer heimliche Freude. Nach der ersten Runde hatte ich noch gezittert, daß meine Partei, der „Bund Freier Demokraten“, gezwungen sein könnte, mit den Ex- Kommunisten ein Bündnis einzugehen. Denn wenn die Sozialisten keine absolute Mehrheit schaffen würden und wir uns um die unerwünschte Ehe drückten, hätten Neuwahlen ausgeschrieben werden müssen, und die Regierung Boross wäre weiter an der Macht geblieben. Vor deren Inkompetenz, Verlogenheit und in christlich-nationale Phrasen verhüllten staatsparteilichen Ambitionen ekelte es aber – siehe Wahlausgang – die große Mehrheit der Bevölkerung. Unsere Wähler hätten uns zum Teufel gewünscht, hätten wir aus moralischen Skrupeln die Amtszeit der Rechtskoalition auch nur um ein halbes Jahr verlängert. Sie hatten einfach genug von dem herrenmenschenhaften, altkonservativen, an den Autokraten Horty erinnernden Pathos und dem ganzen nationalistischen und rassistischen Bullshit. Nach der zweiten Runde brauchten nun die Sozialisten unsere 70 Mandate nicht mehr. Wir konnten in der Opposition bleiben, unser Profil schärfen, unsere Traditionen bewahren. Schließlich waren wir der Kern der Opposition gegen das Kádár-Regime seit den 70er Jahren gewesen.

Zwei Tage später hielt ich auf einer Intellektuellen-Versammlung eine „kämpferische Rede“. Ich machte klar, daß die ungarischen Wähler im zweiten Wahlgang nicht nur für die Sozialisten, sondern Gyula Horn persönlich und damit gegen ein Zusammengehen der beiden Parteien gestimmt hätten. „Ihr Wille geschehe“, sagte ich frommen Herzens. Für die Deutschen ist Gyula Horn zwar der Politiker, der mit der Drahtschere in der Hand 1989 den Eisernen Vorhang durchschnitt. Aber in Ungarn hat sein Name einen etwas anderen Beiklang. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1956 war er in jene Arbeitermiliz eingetreten, die buchstäblich die Hälfte der Ungarn niederknüppelte. Mehr noch als in seiner Milizionärsvergangenheit schien mir Horns Wesen in seinem Funktionärs-Habitus befangen. Jahrzehnte grau und zuverlässig auf den mittelhohen Stufen der Partei- Staatshierarchie auszuhalten: das war in der Tat eine persönlichkeitsformende Leistung! Meine Haltung, mein Optimismus während der ganzen Kádár-Zeit hatte sich ausschließlich aus der Verachtung solcher Leistungen genährt. Mit der jüngeren Generation der Sozialisten hätte ich mir ein Zusammengehen zur Not noch vorstellen können. Gyula Horn hingegen war für mich die lebende Kontinuität des Kádár-Regimes. Zeitungsberichte über besagte Veranstaltung, die die drei ablehnenden Voten verschwiegen, ließen in mir am nächsten Tag jenen schnellen Geschmack aufsteigen, der mich jahrzehntelang jeden Morgen beim Durchblättern der Parteipresse zu befallen pflegte. „Diese Vergangenheit ist unsere strahlende Zukunft“, dachte ich bei mir. „Dem dürfen wir nicht assistieren.“ Einen Tag später waren in der Presse die Lebensläufe der neuen Abgeordneten zu lesen: Mindestens acht Fußballmannschaften der Kádár- Zeit, bestehend aus den Abgeordneten der „Sozialistischen Partei“, hätte man aufstellen können. Mit denen zusammenarbeiten? Ein unerträglicher Gedanke.

Es war aber gerade dieser Gedanke, der mich auf meinen höchstpersönlichen Weg nach Damaskus brachte. Mit denen nicht, klar, aber mit wem dann? Gesichter aus dem alten Parlament tauchten vor mir auf. Ich kann mich noch an die Portraits der Vorkriegspolitiker aus den Kino-Wochenschauen meiner Kindheit erinnern. Als wären sie für einige Jahrzehnte einbalsamiert worden, um nach 1989 zu neuem Leben erweckt zu werden. Auch mit denen konnten wir nicht zusammengehen. Sollten wir den Wählern sagen: Stimmt für uns, obwohl wir eigentlich nicht an die Regierung wollen! Weder mit den Kádár-Leuten noch mit den Horty-Leuten? Oder allein, was ein absurder Gedanke war? Entweder, dachte ich mir, geben wir das Politikmachen im Parteirahmen auf, oder wir koalieren mit jemandem, mit dem wir wenigstens einen Teil unseres Programmes durchsetzen können. In einer Übergangsperiode, wo schnell neue Strukturen geschaffen werden müssen, hat die Opposition nur ganz geringe Möglichkeiten, die Entwicklung mitzugestalten. Eine Partei, die nicht an die Macht will, verliert unter solchen Umständen die Existenzberechtigung. Und wenn es schon so ist, haben die Sozialisten zumindest eine im Humanismus wurzelnde, modernisierungsfreundliche Ideologie, auf die wir uns ihnen gegenüber notfalls berufen können. Dieser Gedanke hatte es bei mir nicht leicht, er mußte sich durch eine dicke emotionale Schlammschicht seinen Weg bahnen. Die Gefängniszeit, die Erinnerung an die Hingerichteten und an den jahrzehntelangen, erzwungenen, mit dem Wörtchen „Konsens“ bemäntelten sozialen Frieden hätten ausgereicht, ihn im Gallert steckenbleiben zu lassen. Wenn nicht von allen Seiten der einmütige Wunsch auf mich niedergeprasselt wäre, ja! zur Koalition mit den Sozialisten zu sagen. Der Regisseur István Szabó teilte mir mit, er habe meine Partei in der Hoffnung gewählt, daß sie von den erhaltenen Stimmen auch Gebrauch machen würde. So wie er dachten Meinungsumfragen zufolge 74 Prozent der Bevölkerung und 92 Prozent der sozialistischen Wähler. Ihnen begann es vor dem Gedanken zu grauen, daß die frischgebackene Schönheitskönigin alleine übrigbleiben würde. Das westliche Europa schien diese Befürchtungen zu teilen. Besonders die deutschen Meinungsmacher erheiterten mich. Sie, die schon angesichts der viel mäßigeren Erfolge der PDS die deutsche Demokratie ins Grab sinken sehen, versicherten Gyula Horn ihres vollsten Vertrauens.

Am Freitag rumpelte ich in der Straßenbahn meinem Damaskus ein weiteres Stück entgegen. Das Schicksal führte mich mit László Békesi zusammen, Nr. 3 der Sozialisten und Autor von deren liberalem Wirtschaftsprogramm. Mit flehender Stimme ließ er mich wissen, daß ohne unsere 70 Abgeordneten sein Wirtschaftsprogramm wegen des Widerstands in seiner eigenen Partei zum Scheitern verurteilt sei. Bis dahin hatte ich mein Seelenheil vom Parteiinteresse bedroht gesehen. Jetzt triumphierte das übergeordnete Interesse des Landes.

Mein Verstand hat gewonnen, aber nicht so sehr, daß ich ihn ganz verliere. Ich habe mich dazu durchgerungen, die gemeinsame Regierung zu unterstützen, sofern sie tatsächlich gemeinsam handelt. Ansonsten bleibe ich der alte Guerillero. István Eörsi

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