■ Die Gefängnisse füllen sich mit rechten Jugendlichen. Immer drängender stellt sich die Frage: Wie sollen Gesellschaft und Justiz auf die Gewalt von rechts reagieren? Bascha Mika hat eine „Jugendanstalt“ in Halle inspiziert. Eine Juristin und zwei Juristen erörtern, ob das geltende Jugendstrafrecht ausreicht und vernünftig angewendet wird.: Frohe Zukunft: Hassen lernen im Knast
Jugendanstalt Halle. Ein Gefängnis, auch wenn es nicht so heißt. Dafür sieht es so aus. Mauern, Stacheldraht, Wachtürme. „Haft,“ sinniert Anstaltsleiter Jochen Frövel, „ist eine Reaktionsform der Gesellschaft, für die es manchmal keine Alternative gibt.“
Hinter den Mauern und Zäunen das Anstaltsgelände. Vier riesige, graubraune Würfeln mit viereckigen, vergitterten Fensterlöchern — die Verwahrhäuser. Arbeitsbaracken, ein Schulungsgebäude, das Küchenhaus mit Eßraum. Zwischen dem Beton ein paar abgenutzte Wiesen, ein Sportplatz. Kein Baum. „Zum Schutz der Gesellschaft,“ meint Anstaltsleiter Klaus Schmidt, „muß man die Jugendlichen bei bestimmten Gewalttaten wegschließen.“ Weggeschlossen sind in der Bundesrepublik knapp 4.200 junge Rechtsbrecher, davon 130 Frauen.
Das Verwahrhaus. Der Eingang, eine Eisentür. Verschlossen. Ein paar Treppen hoch, eine Gittertür. Verschlossen. Wieder eine Metalltür. Verschlossen. Links und rechts eine der sogenannten Stationen. Davor wieder Gitter. Verschlossen. Ein niedriger gefliester Gang, die Wände in einer Farbe gestrichen, die keine ist. Es riecht nach altem Mörtel, Kunststoff und Lysol. Hier leben 20 bis 30 Jugendliche in Zellen, die sie Zimmer nennen. Nur wenige, denen man hier begegnet, blicken verbissen oder mit offener Wut. Die meisten Gesichter sind stumpfe, stoische Masken.
Vor jedem Zimmer sind gräuliche Holztüren. Von abends acht bis morgens sechs sind sie verschlossen. „Hier drinnen,“ sagt ein Gefangener, „muß jeder selbst sehen, wie er klarkommt.“
Alltag im Knast. Sechs Uhr. Wecken. Die Häftlinge kriechen in ihre grauen Drillichhosen, die gestreiften Hemden, die knöchelhohen Schnürstiefel. Raus aus den Zellen. Beim Frühstück statt Kaffee nur Muckefuck, dann ab in die Schule oder zum Arbeiten. Alles auf dem Gelände. „Es ist nichts wie draußen,“ erklärt einer mit leerem Kindergesicht, „die Normen, die Abläufe, die Monotonie.“ Zwischen 14 und 24 Jahren alt können Weggeschlossene in Jugendgefängnissen sein. Hier im Jugendknast von Sachsen-Anhalt liegt das Durchschnittsalter bei siebzehneinhalb.
Bis 14 Uhr sind die Jugendlichen beschäftigt. Zwischendrin gibt's Mittagessen im Eßsaal, wo der Geruch von Abwaschwasser und feuchten Lappen hängt. Wenigstens ihren Hauptschulabschluß oder ein Berufsvorbereitungsjahr sollen die Gefangenen während der Haft absolvieren. Wenn sie wollen. Als Metaller oder Elektriker, als Gärtner oder Koch. Den Langzeithäftlingen — das Jugendstrafrecht sieht maximal zehn Jahre Haft vor — wird eine Malerlehre angeboten. Attraktivere Ausbildungen gibt es nicht. „Das Schlimmste ist,“ sagt Gefägnispfarrer Wolfgang Kleemann, der einmal pro Woche in die Anstalt kommt und ein paar freundliche Worte mit den Jugendlichen wechselt, „daß sie hier ihre Zeit absitzen müssen, ohne das viel mit ihnen passiert.“ Es gibt einen hauptamtlichen Sozialarbeiter und einen Psychologen, der sich ab und zu sehen läßt. Soziale Betreuung? Wohl eher ein Witz. „Erziehen statt Strafe“ lautet der Grundsatz im Jugendstrafrecht. Den Anspruch kann man hier getrost vergessen.
Zu DDR-Zeiten waren in der Anstalt — im Haller Stadtteil Frohe Zukunft — über 1.200 Jungmänner interniert. Eingesperrt wie die Heringe. Heute sind es 130 Gefangene, davon die Hälfte in Untersuchungshaft. Platz hätten sie genug — wenn nicht zwei der vier Verwahrhäuser geschlossen wären. Sie waren völlig marode, selbst für Knastbedingungen „inhuman“.
Kaum einer der hier sitzt hat einen Hauptschul- oder Lehrabschluß, dafür oft ein kaputtes Zuhause. Oder wie es der Pfarrer ausdrückt: Manchmal sollte man statt der Kinder die Eltern einbuchten.
Früher wurde hier gearbeitet, marschiert und exerziert. Militärische Abrichtung mit „Druck, Dampf und Drill“. Seit der Wende, erzählt ein Langstrafer, sei hier nichts mehr so richtig Pflicht. „Selbst arbeiten müssen wir nicht unbedingt.“ Doch an den Kursen nimmt jeder teil.
14 Uhr. Uniformierte Wärter, die hier Bedienstete heißen, führen die Jugendlichen in die Verwahrhäuser zurück. Die meisten sehen kaum nach links oder rechts, scheinen völlig in sich zurückgezogen. Auf ihren Stationen können sie duschen, gegen 15 Uhr gibt's eine Freistunde im Hof. Gruppenweise.
Vier Typen in Drillich lungern auf der Wiese vor einem der Verwahrhäuser rum. Plötzlich schiebt sich über ihnen ein Kopf durch die Gitterstäbe aus Beton. Zwängt sich durch die Streben, bis er darin hängt wie in einem Halseisen. „Hilfe! Ich bin unschuldig! Ich werde mißhandelt!“ Der kahlrasierte Schädel zuckt, schüttelt sich vor Lachen. Gute Vorstellung, was Jungs? Die vier Kumpel grinsen zu dem Glatzkopf hoch. Sie haben Freistunde, der da oben hockt in einer Arrestzelle. Knast im Knast. Eine Disziplinarmaßnahme. Der Glatzkopf hat gemeutert.
Mit fünf, sechs Gleichgesinnten hat er im September die Station IV zerlegt, im Treppenhaus die Glasbausteine aus der Wand geschlagen, die Giebelluke aufgebrochen, das Dach besetzt. „Bin draußen auch immer dabei gewesen, wenn es Randale gab,“ grient er stolz, „aber hier drinnen wirste schneller erwischt.“ Zur Strafe wurden die Meuterer drei Wochen in Arrest gesteckt. Allein in eine Zelle mit Klo und Matratze, ohne Zigaretten, ohne Radio, ohne Lesestoff.
Seit der Wende läuft in der Anstalt alles lockerer, aber die Stimmung ist aggressiver. „Ist doch auch klar,“ meint Anstaltsleiter Schmidt, „wenn man Freiräume gewährt, ist das nicht zu vermeiden.“ Jeder, der hier reinkommt, hat Angst. Seine Stellung in der Häftlingshierarchie muß er sich erst erobern. Stark zu sein, ist nicht das Schlechteste, Gerissenheit macht sich auch gut. Viele werden erst hier richtig kriminell.
„Eine Haftanstalt,“ sagt Anstaltsleiter Frövel, „ist keine Besserungsanstalt.“ Jugendliche, die einmal in den Strafvollzug geraten, stigmatisiert und „institutionalisiert“, werden in der Regel wieder straffällig. Wer hier landet ist, so merkwürdig das klingt, extrem gefährdet. Die Gefangenen wissen das. „Ich versuch hier in keine Scheiße reinzurutschen,“ erläutert ein Langstrafer, „und das Beste aus der Zeit zu machen.“ Deliquenten, die ihre Strafe draußen ableisten — etwa durch Täter-Opfer-Ausgleich oder Wochenend- und Projektarbeit — haben weitaus größere Chancen, einer kriminellen Karriere zu entkommen.
Seit der Wende hat sich die Knastklientel verändert. Früher saßen hier neben den üblichen Mördern, Vergewaltigern, Totschlägern, Dieben und Betrügern hauptsächlich Republikflüchtlinge und sogenannte asoziale Elemente. Heute sind es Rechte. Wenn man über die Flure läuft, in den Hof blickt, sieht man Glatzen zu hauf. „Die Rechten“, sagt Anstaltsleiter Frövel, „nehmen ihre Strukturen von außen mit rein. An sie ist im Strafvollzug nicht ranzukommen.“ Sie bilden Gruppen, bekriegen sich untereinander. „Es geht weniger um Ideologie als um Macht. Sie wollen erleben, daß andere Angst vor ihnen haben.“ Ein Viertel der Insassen kommt aus der rechten Szene, sagt die Anstaltsleitung. Es sind mehr als die Hälfte, sagen die Häftlinge.
„Natürlich gibt es hier Haß auf Fremde,“ erzählt einer aus der Gefangenenmitverantwortung. „Die Rechten versuchen, den großen Macker zu spielen, und niemand will sich mit ihnen anlegen.“ Feste rechte oder linke Gruppen gebe es allerdings nicht. „Wenn hier 20 Linke wären und die würden auch dazu stehen, gäb's jede Menge Randale. Aber die Zecken passen sich an. Schon in der U'Haft lassen sie sich den Schädel scheren.“
Nach dem Freigang geht's wieder zurück auf Station. Derselbe Flur, dieselben Türen, dieselben Zimmer. Die Insassen kennen jede Fliese, jeden Fussel, jeden Nagel in der Wand. Immer die gleichen Gesichter, die gleichen Sprüche. Auf der Station können sie Tischtennis spielen, fernsehen, lesen. Sie haben Zeit. Zeit. Sind sich selbst überlassen. Sie langweilen sich. Diese ätzende, tödliche Langeweile. Das ist Knast, das schlimmste an ihm, sagen die Jugendlichen. „Ich weiß, daß ich im Strafvollzug bin,“ erzählt ein Jungscher, der mit Baseballcap aus seiner Zelle kommt, als könnte er jetzt einfach draußen spazieren gehen, „aber ich darf nicht darüber nachdenken, sonst dreh ich durch.“ Wem soll das nützen? „Mit Selbstmordversuch,“ fährt ein anderer fort, der aussieht wie 14 aber schon 21 ist, „erreichst du hier gar nichts. Die ziehen das durch und du hängst dann mit Handschellen im Arrest.“
Auf jeder Station gibt's einen Kraftraum. Zwei zerfledderte Matten, eingerissene Polster, ein paar Geräte. Ein kleiner, vierschrötiger Kerl arbeitet sich ab. Packt die Metallstange, spannt die Muskeln unter dem kurzärmligen T-Shirt, reißt das Gewicht hoch, pustet, stöhnt, schwitzt, setzt es mit einem Seufzer wieder ab. Nochmal! „Was soll ich den sonst machen?“ Und nochmal!
Station IV. Die Bude von drei Langstrafern. Jeder Gefangene hat Anrecht auf zwei Pflanzen. Hier gibt es mehr. Gardinen sind verboten. Hier hängen welche vor den Gittern, ordentlich wie bei Muttern. Das ist Luxus. Wenn sich die Gefangenen „wohlverhalten“, hat die Anstaltsleitung nichts gegen solche „Erleichterungen“ einzuwenden. Doch auch das Luxuszimmer ist ein verwohnter Kasernenraum, in dem Wäsche zum Trocknen hängt und hinten das Klo mieft.
Zwei halbhohe Holzwände trennen die Betten vom übrigen Zimmer ab, in den Regalen stehen Kaffee, Brot, Kassetten. Mit Zigaretten, Lebensmitteln und Toilettenartikeln können sich die Gefangenen in einem kleinen Laden auf dem Anstaltsgelände eindecken. Wer arbeitet, verdient sieben bis zehn Mark am Tag. Im Laden ist jede Zahnpastatube zwei Mark teurer als draußen.
Die drei Bewohner der Luxusbude hocken am Tisch, rauchen, reden. Jetzt tragen sie Jeans und T-Shirts. Die Knastklamotten, die bei der Arbeit vorgeschrieben sind, dürfen sie nachmittags weghängen — aber auch das nur mit besonderer Genehmigung. Ein Großer mit langen Haaren, der Koch lernt und in der Gefangenenvertretung sitzt, meint zögernd: „Ja, das Verhältnis zu den Beamten... Es gibt viele Gespräche, aber wenig Lösungen.“ Probleme gebe es mit den Besuchszeiten, mit dem Einkauf, mit dem Freigang.
Doch das größte Problem dieser Jungmänner: der fehlende Sex. „Intimspray“ wie sie es nennen. Dieses Problem läßt sich im Knast wohl kaum lösen. „Wir noggern halt oft,“ feixen sie rum.
Doch sie werden schnell wieder ernst. „Hier drin,“ sagen sie und meinen ihre armselige Zelle, den dumpfen Flur, die Gitter- und Eisentüren, die Zäune und Mauern, „fängst du schnell an zu hassen. Und niemand hat was davon, wenn du hier absitzen tust.“
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