: Die Freiheit, sich selbst zu zerstören
Die Familie ist schuld, wenn der Onkel es schwer hat im Leben: Pierre Mérots aufgekratzter Säuferroman „Säugetiere“
VON FRANK SCHÄFER
Gegen Ende dieser zwischen Sarkasmus, Larmoyanz und krudem Hass wechselnden, von diversen Alkoholika bewässerten Säufer-Suada überlegt der Erzähler: „Ist es besser, von der Mutter weggegeben zu werden oder eine Mutter zu haben, die Sie als lebenslange Wucherung ihrer Eierstöcke betrachtet, als den Zweitwohnsitz ihrer Selbst?“
Bei ihm, dem „Onkel“ – die schwarzen Schafe in der Familie sind ja immer die Onkel –, ist Letzteres der Fall, und so erklärt sich bzw. erklärt er uns seine ganze kummervolle Vita. Zunächst sein „Haselnusssyndrom“, dem zufolge er sich jahrelang noch nicht in der Pubertät wähnt wegen angeblich zu kleiner Hoden, obwohl er längst wie ein Bekloppter masturbiert. Schwere Depressionen kommen später hinzu, eine gewisse Antriebsschwäche, berufliche Ehrgeizlosigkeit, fehlendes Standesbewusstsein, eine allgegenwärtige Langeweile und nicht zuletzt fundamentale Defizite in Liebesdingen.
Die Familie, in ihrer vermeintlich normalen, intakten Form, mit dem hegenden, umsorgenden Muttertier im Zentrum, mit den strengen Aufzuchtriten, die den Spross lebens- und gesellschaftstüchtig machen sollen, wird hier mit schöner Süffisanz haftbar gemacht für die charakterliche Deformation des Onkels. Und er zieht seine Lehre daraus, verleugnet diese anthropologische, wenn nicht gar evolutionäre Konstante, die Wiederkehr des ewig gleichen Familienmodells, und steigt aus, vielmehr ab, in die Puffs und Bars, in den dreckigen Teil des Nachtlebens und lebt sein einsames, bohemistisches Leben im Rausch. Das macht ihn zwar auch nicht glücklich, denn Alkohol gegen Liebe einzutauschen bleibt immer ein Verlustgeschäft, das weiß auch der Onkel, aber auf seine Weise hat er trotzdem Recht: „Im Niedergang des Morgens alleine heimzugehen ist furchtbar, denn es bedeutet Verzweiflung und größte Freude zugleich. Keine Frau begleitet Sie, keine torkelnde Unglückliche, keine hartnäckige, brillante Kämpferin für Ihre Errettung, kein astraler zwanzigjähriger Blitz, der von irgendwo dahergekommen ist. Aber Sie würden Ihr Leben nicht gegen einen geregelten, sanften, pfleglichen Tagesablauf eintauschen. Der erste Grund für diese Freude ist die Umkehrung der Ordnung der Dinge. Sie kämpfen gegen ein Leben an, das man Ihnen gegen Ihren Willen gegeben hat, und nun, am Ende dieser Übungspartie, haben Sie das Gefühl, dass Sie die Freiheit gewonnen haben, sich selbst zu zerstören.“
Und in besonders schweren Stunden des Zweifels helfen Miltons Durchhalteverse aus dem „Verlorenem Paradies“: „Zu herrschen in der Hölle hier ist mir / Lieber, als im Himmel nur zu dienen.“
Seine Zerrüttung hat aber auch ihr Gutes. Wie jede Abweichung von der Norm schärft auch diese den Blick für die Absurditäten der angeblich Normalen. Und so weiß der Onkel, ob er nun seinen Wehrdienst in einem Marinemuseum ableistet, in einer Werbeagentur, bei einem Verlag oder als Lateinlehrer arbeitet und am Ende durch die Pariser Destillen torkelt, sein jeweiliges Soziotop zu sezieren und meistens auch sehr eloquent zu beschimpfen. Der Alkohol lässt eben nicht nur die Wortmaschine schön rund laufen, er senkt auch die Hemmschwelle.
Hier liegen aber auch die Schwächen des Buchs. Vor allem in den Verlags- und Schulepisoden gefällt sich diese Prosa allzu sehr in satirischer Aufgekratztheit und verliert dadurch ihre Ernstebene, deren sanfte Melancholie zuvor einen feinen Kontrast abgab. Umständlich beschreibt Mérot hier etwa, wie man seinen Schülern beibringt – und Wochen dafür braucht –, einen Strich mit dem Lineal zu ziehen. Das ist noch dazu nicht sehr witzig. Habitus und Jargon des typischen Pädagogen zu karikieren darf man sich ohnehin getrost schenken, das machen die selbst viel besser! Und dass Verleger Schweine sind, die sich auf Kosten der Autoren und ihrer Angestellten die Taschen voll hauen, meine ich, hätte ich auch schon mal irgendwo gehört.
Am besten liest sich diese lange und oft reichlich delirante Rede, die immer wieder in die zweite Person verfällt, den Leser also selbst zur handelnden Person macht, ihn in diese Sache mit hineinzieht, wenn Tragik und Gebrochenheit des Onkels sich offenbaren und er nicht reduziert wird auf den neunmalklugen Miesepeter. Etwa wenn er mit seiner ersten Frau, der in Frankreich exilierten, entsprechend traurigen Polin Jojo zum Weihnachtsfest in ihre gerade noch sozialistische Heimat zurückkehrt und mit Anteilnahme das einfache bzw. gerade eben nicht immer einfache Leben hier beschreibt, auch seine Witze macht, sich aber für Momente unter diesen Wodka saufenden Gemütsmenschen fast zu Hause fühlt. Und es für ebendiese Momente so aussieht, als hätte die Ehe mit Jojo nicht unbedingt scheitern müssen.
Ihr widmet er denn auch die zärtlichsten Sätze in diesem unsentimentalen Buch: „Sie stellen sich vor, wie Jojo durch die Straßen von Warschau geht. Sie kommt von der Arbeit. Sie holt das Kind ab. Sie läuft durch den Schnee, in dem altmodischen Licht von Warschau, und Sie wünschen, dass sie glücklich sei, denn solange sie nicht glücklich ist, können Sie keinen Frieden finden.“ Dass er zu solchen Sätzen fähig ist, gibt seinen Sottisen erst das nötige Gewicht.
Pierre Mérot: „Säugetiere“. Aus dem Französischen von Gaby Wurster. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2004, 192 Seiten, 17,90 Euro