"Die Frau, die singt" im Kino: Weh! Weh! Weh! Weh!
Der kanadische Regisseur Denis Villeneuve hat mit "Die Frau, die singt" einen politischen Film gemacht. Er ist in der Handlung tragödisch und in den Bildern poetisch.
Die Mutter ist tot und verschickt per Testament letzte Briefe. Die Zwillinge Jeanne und Simon Nawal sitzen beim Notar und sind wie vom Donner gerührt. Die Mutter hat sie in ihrem letzten Willen zu Postboten bestellt. Ein Brief an den Vater, den sie nicht kannten. Ein Brief an den Bruder, von dem sie nicht wussten. Kein Grabstein, bestimmt testamentarisch die Mutter, bis zum Eintreffen der Briefe bei ihren Adressaten.
So beginnt der den Kindern aufgegebene Weg schrecklicher genealogischer Erkenntnis. Der Konstruktion nach ist das durchaus ein Krimi, der Hinweise zur Vorgeschichte wie Brotkrumen streut. Hinaus läuft es dann auf eine griechische Tragödie im Arthouse-Format.
Der kanadische Regisseur Denis Villeneuve hat mit "Die Frau, die singt" einen politischen Film gemacht; politisch gemacht ist der Film aber nicht. Sondern in der Handlung ganz schön tragödisch und in den Bildern ganz schön poetisch. Zwischendurch spielt ganz schön mittelprächtig-pathetische Independent-Musik und erzeugt Stimmung auf eine Weise, dass man denkt: Hier wird jetzt aber ganz schön Stimmung erzeugt.
Allzeit zutreffende Tatbestände des Nahen Ostens
Die Handlung, die zwischen den Zeitebenen springt, geht erst einmal so: Die Tochter wird als Botin testamentarisch in Richtung Naher Osten verfügt und verschickt. Der Bruder, widerspenstiger ohnehin, kommt später nach. "Zukunft braucht Herkunft" (Odo Marquard), jedoch war das so ganz sicher niemals gedacht: Was Jeanne und Simon an Wissen über ihre Abkunft erwerben, ist die politische Nahost-Traumageschichte in privat-verwandtschaftlicher Ausfertigung. Schlimmer als die Mutter und Jeanne und Simon und den Bruder und Vater hat es schicksalsmäßig auch Ödipus einst nicht erwischt. ("Weh! Weh! Weh! Weh!", Sophokles: "König Ödipus", V, 2)
Jeanne sucht Vater und Bruder im namentlich nie genannten Land, aus dem die Mutter einst nach Kanada floh. Es kann nur der Libanon sein, der politischen und geografischen Landschaft nach. Eingeblendet werden Namen von Orten und Menschen, in großen roten Sans-Serif-Lettern. Rückgeblendet wird in die Jugend der Mutter. Hier schürzt sich der Knoten. Historische Präzisierungen jedoch spart sich das Buch, und zwar weil es denkt, es habe an allzeit zutreffenden Tatbeständen des Nahen Ostens genug.
Nicht zu nah und nicht zu fern
Alles ist einen entscheidenden Schritt ins Allegorische entrückt - das Politische verliert so seinen konkreten Kontext, die Gewalt, die man sieht, ihren historischen Hintergrund. Es bleibt nur der ganz generische Bürgerkrieg: Vernichtung und Rache; der Hass der Religionen, Muslime, Juden und Christen, durch Mord- und Bluttaten stets aufs Neue genährt; politisches Attentat, Einzelzelle, Folter, singende Frau und vielfache Vergewaltigung; in den Kopf geschossenes Kind und in der Wüste pittoresk angezündeter Bus.
All das zeigt Regisseur Villeneuve und zeigt es auch nicht: Die Kamera findet allzeit den Winkel, aus dem es auf nicht ganz schlimme Art wehtut; nicht zu nah dran am, nicht zu fern vom brutalen Geschehen. "Die Frau, die singt" ist einer der Filme, deren darstellungspolitischer Mangel an schlechtem Geschmack eklatant ist.
Einer der Filme, in denen viel zu schönen Menschen viel zu viel Schreckliches widerfährt. Einer der Filme, die die Schäfchen der politischen Verwicklungen des Ostens besten Gewissens ins Trockene ihres Kinos des Westens bringen. Einer der für den Auslandsoscar nominierten politischen Filme, die handwerklich exzellent, aber an keiner Stelle politisch gemacht und die darum die perfekten Produkte für den gehobenen Kinokonsum sind: Sie ermöglichen dem Zuschauer den kultivierten Genuss der aufgeklärten eigenen Haltung zu den schrecklichen Dingen der Welt.
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