Die Fratze des Michelangelo

Größter Fälschungsskandal der Kunstgeschichte jetzt in Florenz aufgedeckt

Michelangelo – ein Mega-Mythos! Man hält ihn für den bedeutendsten Meister der Renaissance. Als Bildhauer ein Gigant, als Maler ein Titan. Er selbst: hässlich wie die Nacht. Doch die Schönheit seiner Werke „strahlt durch die Jahrhunderte“ (Kunstpapst Jörg Immendorff). Nun aber fällt ein schwarzer Schatten auf seinen Ruhm. Die Fachwelt ist erschüttert: Michelangelo Buonarroti (1475–1564) soll ein Kunstfälscher gewesen sein!

Der Mann, der das Allround-Genie besudelt, ist nicht irgendwer. Sondern der wichtigste Kunstwissenschaftler Italiens. Sein Name: Giorgio Vasari. Wir haben den rüstigen Greis in Florenz besucht.

Er empfängt uns in den Uffizien, deren Restaurierung er seit zehn Jahren leitet. Sein Gesicht: ernst, mit tiefen Falten und hellwachen Augen. Ein grauer Bart wallt bis auf seine Brust. Professore Vasari führt uns in sein riesiges Büro. Hier residierte einst Lorenzo Medici. Geschichte haucht uns an – Weltgeschichte.

Auf einem mächtigen Eichentisch, noch verhüllt: das Beweisstück. „Glauben Sie mir“, seufzt Vasari, „es fiel mir nicht leicht, mit meiner Entdeckung an die Öffentlichkeit zu gehen. Viele Jahre lang habe ich mein Wissen für mich behalten.“ Für Sekunden wirkt der alte Lehrer unendlich müde. „Aber meine Tage sind gezählt. Ich will nicht mit einer Lüge vor meinen Schöpfer treten.“ Er strafft sich, und seine Augen blitzen wieder vor Energie: „Außerdem – ich bin Wissenschaftler!“

Er habe Michelangelo bewundert. „Unendlich, Signori! Immenso!“ Aber eines Tages sei ihm „das hier“ aufgefallen – und er enthüllt das Beweisstück. Ein antiker Faunskopf, fratzenhaft lachend. Zunge und Zähne sind sorgfältig und lebensecht aus dem Marmor gehauen. Auffällig: das Gebiss wirkt schadhaft wie bei einem alten Mann. Der Zahn der Zeit? Nein, versichert Vasari, Absicht des Künstlers. „Die Skulptur wird für eines der großartigsten Artefakte des frühen Hellenismus gehalten“, erklärt der Professor. „Dichter des alten Rom haben es besungen. Dann ging der Faun verloren. Bis ins späte Seicento (16. Jahrhundert; d. Red.). Da tauchte er auf wundersame Weise in der Sammlung der Medici auf.“ Ihm sei diese Geschichte stets etwas „faul“ vorgekommen. Vor allem, dass der Faun Karies und Zahnausfall zeigt – „machte mich stutzig“.

Und noch etwas. Zur selben Zeit, als Lorenzo Medici stolz den Erwerb des Faunskopfes verkündete – war der blutjunge Michelangelo sein Gast! Vasari nimmt die Skulptur in die Hand und stellt sie auf den Kopf. „Und jetzt, prego, sehen Sie sich die Anordnung der Zahnlücken einmal genau an.“ Wir starren lange auf das Gebiss. Plötzlich stockt uns der Atem. Die Lücken bilden Buchstaben. „MB“ – Michelangelo Buonarroti! Offenbar hat der prahlsüchtige Medici die legendäre Figur von seinem Schützling fälschen lassen. „Gerissen wie Lorenzo, sagt man bis heute in der Toskana“, schmunzelt Vasari grimmig.

Muss die Kunstgeschichte jetzt umgeschrieben werden? „Naturalmente! Wer einmal fälscht, fälscht immer wieder.“ Leider habe Michelangelo die meisten Spuren verwischt. „Der Mann hatte ja Einfluss bei allen Fürsten und beim Papst. Sogar mit dem Großsultan war er verbandelt. Ein gewaltiges Komplott. Ich bin sicher: Gut die Hälfte aller angeblich ‚antiken‘ Kunstwerke, die heute in der Welt ausgestellt werden, stammt aus der Werkstatt Buonarrotis. Und seiner Handlanger.“

Als wir uns verabschieden, wirkt Vasari erschöpft. „Dass ein so begnadeter Künstler zugleich ein so gemeiner Manipulator gewesen ist“, murmelt er, „das hat mir das Herz gebrochen.“ Eine Träne rollt langsam über seine Wange und versickert im Bart . . .

KAY SOKOLOWSKY

Hinweis: Ihm sei diese Geschichte stets „faul“ vorgekommen. Vor allem, dass der Faun Zahnausfall zeigt, machte ihn stutzig