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Archiv-Artikel

„Die Empfehlung wird weniger ungerecht“

Der Prognoseunterricht könnte Kinder aus unteren Schichten zu einer höheren Laufbahn verhelfen, sagt Erziehungswissenschaftler Bos – Lehrer könnten besser über die richtige Schule entscheiden als Eltern

taz: Herr Bos, das Schulgesetz von Schwarz-Gelb sieht eine Art Assessement-Center für Grundschulabgänger vor, deren Eltern die Lehrerempfehlung nicht akzeptieren. Eine gute Idee?

Wilfried Bos: Ich glaube, dass es richtig ist, der Einschätzung der Lehrer mehr Gewicht zu geben. Wenn sie zu entscheiden haben, auf welche weiterführende Schule ein Kind gehen soll, kommen dabei gerechtere Empfehlungen heraus – das hat sich in meinen Studien bestätigt.

Sind die Eltern für die falsche Schulwahl verantwortlich?

Es gibt viele Ärzte oder Rechtsanwälte, die ihr Kind gegen die Empfehlung der Schule auf dem Gymnasium anmelden. In Bayern und Baden-Württemberg ist das nicht einfach so möglich wie in NRW. Häufiger sind es aber die Eltern aus sozial unteren Schichten, für die ein Gymnasialbesuch ihrer Kinder nicht in Frage kommt.

Sehen diese nicht die Chance des sozialen Aufstiegs – zumindest für ihre Kinder?

Oft denken die Eltern, es reiche auch, wenn ihre Tochter irgendwann als Verkäuferin arbeitet. Andere haben Angst, ihr Kind könne mit dem Rechtsanwalt- und Ärztenachwuchs nicht mithalten – gerade was teure Klassenfahrten angeht. Durch eine verbindliche Empfehlung der Schule dürften solche Argumente nicht mehr gelten. Das Problem der teuren Klassenfahrten bleibt natürlich bestehen.

Haben Sie nicht festgestellt, dass Lehrer von sich aus ein Arztkind eher aufs Gymnasium schicken als das Kind einer türkischen Putzfrau – bei gleich guter Leistung?

Etwa 40 Prozent der Schulempfehlungen sind suboptimal, das stimmt. Aber man kann versuchen, sie zu verbessern. Das in NRW geplante Assessement-Center ist eine Möglichkeit. Eine weitere Option wäre, die falsche Schulwahl durch höhere Durchlässigkeit nach oben zu korrigieren: In Baden-Württemberg etwa erreicht jeder dritte Abiturient seine Hochschulreife auf dem zweiten Bildungsweg –über Berufs- oder Abendgymnasien.

Die falsche Schulwahl wäre kein Thema mehr, wenn das dreigliedrige System nicht mehr existierte.

Es bringt zurzeit überhaupt nichts, einen Streit über eine Reform der Schulstruktur loszutreten. Wir werden das mehrgliedrige Schulsystem auch noch in 20 Jahren haben, da bin ich mir sicher. Also müssen wir auf andere Weise versuchen, Fehlentscheidungen zu korrigieren.

Und das Assessement-Center für GrundschülerInnen könnte die Lösung für NRW sein?

Es wird einer gerechteren Empfehlung eher nutzen als schaden. Wie das genau ablaufen soll, ist mir noch nicht klar. Es muss aber auch nicht so ein stressiges Assessement-Center wie bei erwachsenen Berufsanwärtern werden, das kann man doch auch spielerisch gestalten.

Die Schulministerin hat es geschafft, in ihrer kurzen Amtszeit die gesamte Lehrerschaft gegen sich aufbringen. Werden jetzt auch noch die Eltern auf die Barrikaden gehen?

Die oberen Schichten werden sich nicht so einfach das Recht nehmen lassen, die beste Schulform für ihr Kind auszusuchen. Die akademischen Eltern, die in den Stadträten sitzen, werden versuchen, alles dagegen zu unternehmen. Dadurch wird der Druck auf die Grundschul-Lehrkräfte zunehmen. Wahrscheinlich ist auch die Neugründung von Privatschulen. Von den Eltern aus den unteren Schichten kommt traditionell kaum Widerstand. Dass ihre Kinder eine größere Chance auf Bildung erhalten, liegt mir sehr am Herzen.

INTERVIEW:NATALIE WIESMANN