Die Dokumentation „Andere Welt“: Stille Tage in der Psychiatrie
Die Hamburger Filmemacherin Christa Pfafferott hat über Wochen Pflegerinnen und Patientinnen in einer forensischen Klinik mit der Kamera begleitet.
HAMBURG taz| Selten wird im Kino so eindrücklich gezeigt, was es bedeutet, eingesperrt zu sein. Gleich in der ersten Sequenz ihres Films „Andere Welt“ macht Christa Pfafferott deutlich, dass die Pflegerinnen nur bedingt freier sind als die Patientinnen in einer Klinik für Forensische Psychiatrie. Die Pflegerin muss viele Schlösser öffnen, durch mehrere Sicherheitsschleusen gehen und ihre Retina scannen lassen, um zu ihrer Abteilung zu kommen.
Jeder ihrer Schritte wird von Kameras aufgenommen. Es scheint keinen Winkel in der Anlage zu geben, der nicht videoüberwacht ist, und Pfafferott wechselt immer wieder zwischen den Bildern der eigenen Kamera und den automatisch aufgenommenen.
Ein paar Wochen lang durfte die Hamburger Filmemacherin in einer geschlossenen Anstalt filmen, in der Frauen und Männer leben, die gemäß eines richterlichen Beschlusses als für die Allgemeinheit gefährlich gelten. Ihre Protagonistinnen sind drei Patientinnen und drei Pflegerinnen der Frauenstation. Zum Teil befragt sie direkt, zum Teil folgt die Kamera ihnen bei ihrer täglichen Arbeit.
Die Anwesenheit der Kameras wird immer wieder thematisiert und es wird nicht kaschiert, wie sehr sie eine Situation verändern können. So stoppt etwa eine der Pflegerinnen die Klagerede einer Patientin mit dem Satz, so rede sie ja nur für die Kamera. In einer anderen Situation möchte eine Patientin nicht gefilmt werden, weil es ihr nicht gut geht. Dieser kurze Dialog wurde nicht herausgeschnitten. Einige Passagen wurden extra für den Film arrangiert. So demonstrieren die Pflegerinnen in einer Szene, wie die Kranken in Krisensituationen mit Bandagen fixiert werden.
Schon während ihres Regie-Studiums an der Filmakademie Baden Württemberg machte Pfafferott Filme über den Ekel, zwei Bestatterinnen, das Sterben einer alten Frau und eine junge Mutter, die sich nach einer ungewollten Schwangerschaft für Kind und Familie entscheidet.
Auch in „Die andere Welt“ geht es ihr um die Wesenszüge der Menschen. Pfafferott interessiert sich in ihrere Dokumentation nicht für einzelne Krankheitsbilder, sondern für die Machtverhältnisse zwischen den Patientinnen und den Pflegerinnen. Dabei vermeidet sie naheliegende Parallelen zu Klinik-Horrorszenarien wie „Einer flog übers Kuckucksnest“. Sie zeigt stattdessen, wie anstrengend die Arbeit der Pflegerinnen ist und wie sehr diese sich darum bemühen, den Patientinnen ihr Leben in der Unfreiheit möglichst zu erleichtern.
Deshalb wirkt es so erschütternd, wenn eine der Frauen drei Monate lang in den „Kriseninterventionsraum“ gesteckt wird. Dieser Raum ist so „reizarm“, so karg wie möglich eingerichtet, damit sie dort sich selbst und anderen nicht gefährlich werden kann. Die Kommunikation mit der Pflegerin findet durch eine vergitterte Tür statt und ist zeitlich streng reglementiert. Oft reicht die Zeit gerade mal, um schnell eine Zigarette zu rauchen.
In diesem Film wird überhaupt ständig geraucht. Es scheint eine der wenigen Freiheiten zu sein, die den Frauen hier geblieben ist. Die Pflegerinnen rauchen genauso obsessiv wie die Patientinnen, sind sie doch durch strenge Regeln und Sicherheitsvorkehrungen auch in ihrer Freiheit eingeschränkt.
Es ist ungewöhnlich, dass einem Kamerateam eine Innensicht in eine forensische Klinik gewährt wird. Möglich wurde es, weil Christa Pfafferott dort zuerst hospitierte und dann für das Magazin der Süddeutschen Zeitung die Regale in den Zellen der Insassen fotografierte. Alle Regale haben die gleichen Maße, wurden aber völlig anders bestückt und dekoriert und wirken so wie minimalistische Porträts der PatientInnen.
Pfafferott schildert nüchtern und ohne dramatische Zuspitzungen die Zustände in dieser Klinik und macht so deutlich, dass etwas an diesem System nicht stimmt. Ihre unkommentierte Zustandsbeschreibung ist ein Plädoyer für eine Reform. Die Paragrafen 20 und 63 des Strafgesetzbuches, in denen die „Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“ und die „Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus“ festgeschrieben sind, sind nicht mehr zeitgemäß.
Gerade der Skandal um Gustl Mollath, der unter ähnlichen Bedingungen in einer Klinik in Bayern einsaß, hat diese Missstände deutlich gemacht. Brutal an dieser Gesetzgebung ist, dass die Unterbringung in der Klinik auf „unbestimmte Zeit“ verfügt und den Inhaftierten dadurch jede Perspektive genommen wird. Am stärksten ist der Film dann, wenn er zeigt, wie eng die Zeitspannen sind, in denen die Patientinnen denken. Die eine hofft auf eine Verbesserung ihrer Situation „in zwei oder vier Jahren“, die andere ist schon seit über zehn Jahren eingesperrt.