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■ Die Chemieindustrie verliert ihre OmnipotenzAm Ende die Wende

Mal ehrlich, haben Sie schon mal Ihr Auto selbst kontrolliert, ein Formular ausgefüllt und das dann beim TÜV abgegeben, mit der Bitte, doch die Plausibilität ihrer Angaben zu prüfen. Nicht?! Dann muß das daran liegen, daß Sie nicht bei der chemischen Industrie beschäftigt sind. Ingenieure der chemischen Industrie machen so was bisher routinemäßig, nicht für ihre Autos, aber für die Reaktoren, in denen sie ihre giftigen Brühen kochen. Der Vergleich hinkt, zugegebenermaßen. Der chemische Reaktor für die Giftbrühe ist schließlich potentiell gefährlicher als Ihr zwölf Jahre alter VW Golf, und älter. Dafür aber sind Sie weniger mächtig als die chemische Industrie. Es gibt heute wahrscheinlich keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem wirtschaftliche und politische Macht derartig eng verzahnt sind, keinen Industriezweig, dessen Manager ungenierter in die alltägliche Politik eingreifen. Die Chemiekonzerne stellen Hunderte von Mitarbeitern frei, die in ihrem Sinne auf die Politik der jeweiligen Kommunen, Länder und auch des Bundes achtgeben. Auch Kanzler Kohl verdiente seine ersten Sporen bei BASF.

Die Chemie war eine Jahrhundertindustrie. Aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, verschlossen vor der nichtwissenden, dummgehaltenen Bevölkerung etablierte sie ihre Imperien. Ihre Herren haben sich in den vergangenen 100 Jahren dabei einen gesellschaftlichen Sicherheitsrabatt verschafft. Die Konzerne, die oft weit und breit der größte Arbeitgeber sind, durften fast alles. Sie vergif(te)ten Luft, Wasser und Boden, setzten praktisch nach Belieben bei den Behörden durch, was anderen glatt verboten worden wäre. Leverkusen ist Bayer, Ludwigshafen ist BASF und Höchst ist Hoechst.

Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Künftig werden die TÜV-Menschen womöglich auch beim Chemie-Ingenieur den Kessel prüfen. Wer Staat im Staate ist, muß genau die Voraussetzungen beachten, unter denen solche Machtkonzentration möglich ist. Die Wälle und Mauern der Festung Chemie aber bröckeln. Erstens ist die Expertenkultur zerfallen, die Exklusivität des Wissens für die Industrie dahin. Zweitens kann ein wissenschaftlich und klassisch modern daherkommender Industriezweig nicht ungeprüft uralte Anlagen mit einer hundert Jahre alten Sicherheitsphilosophie betreiben. Wer das vernachlässigt, verliert den Nimbus der Modernität und muß bitter bezahlen. Zuerst fallen die Verbündeten in der Politik ab, dann werden auch die eigenen Leute ratlos — wie gestern der Sprecher des Verbandes der chemischen Industrie. Die Chemiewende rückt in Sicht. Hermann-Josef Tenhagen

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