■ Die Bundesrepublik wird von der Realität eingeholt: Das Ende des Nullsummenspiels
Zerknirscht standen die Führungspersonen der SPD am Montag vor den Kameras und suchten krampfhaft nach Erklärungen für die herbe Wahlniederlage. Die holzschnittartigen Antworten wie „Das Profil muß geschärft werden“ und „Wir müssen wieder stärker zum Anwalt der kleinen Leute werden“ garantieren jetzt schon, daß sich an dem Abwärtstrend auch bei den nächsten Wahlen nicht viel ändern wird. Die CDU frohlockt zwar, weil ihre Stimmenverluste niedriger ausgefallen sind als erwartet, aber auch ihr Zweckoptimismus kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zeiten des Nullsummenspiels zwischen den beiden großen Volksparteien endgültig vorbei sind: Was die eine verliert, bekommt die andere noch lange nicht.
Europas Normalität
Sieht man sich die Erklärungsmuster für die Auflösung der Wählerpotentiale der Großparteien durch die Vertreter der politischen Klasse im einzelnen an, so überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit man immer noch davon ausgeht, daß sich diese Entwicklung zurückdrehen lasse, daß man bald wieder zu den guten alten Zeiten von 40 Prozent und mehr zurückkehren könnte. Diese Hoffnung ist nicht nur Selbsttäuschung, sondern sie verhindert geradezu, daß sich die politische Klasse den Veränderungen, die sich in den modernen westlichen Demokratien seit Jahren vollziehen, wirklich stellt. Die Krise der Parteiendemokratie ist nicht nur den subjektiven Versäumnissen und Fehlern der Parteien selbst geschuldet, sondern sie ist das Resultat der Zerfallsprozesse moderner Gesellschaften.
Die wohlfahrtsstaatlich organisierte Bundesrepublik mit ihrer relativ stabilen Ökonomie war über Jahrzehnte ein Bollwerk gegen die Entwicklungen, die sich in anderen westlichen Demokratien schon seit längerer Zeit abzeichnen: Anwachsen der Zahl der Nichtwähler (in den USA ist die Zahl der Nichtwähler seit Jahrzehnten ungefähr so groß wie die der Wähler), Auflösung des integrativen Parteiensystems (Frankreich, Italien) und das erfolgreiche Coming-out rechtspopulistischer oder profaschistischer Parteien und Organisationen (Italien, Frankreich).
Wahlsystem, politische Traditionen und Geschichte haben diesen Entwicklungen jeweils einen spezifischen Charakter verliehen, aber trotz aller Besonderheiten werden in ihnen gemeinsame Strukturmerkmale der modernen liberalen und demokratischen Gesellschaften deutlich: Die zunehmende Isolation der politischen Klasse von ihren WählerInnen, die Fragmentierung und Individualisierung der Gesellschaft, der Zerfall traditioneller Parteimilieus, der Verlust an Gemeinsinn, die instrumentelle Benutzung der Leistungen des Wohlfahrtsstaates durch lobbyistische und besitzindividualistische Verbände und Interessenorganisationen quer durch die Gesellschaft, die mangelnde Fähigkeit, Modernisierungsverlierer wieder in die Gesellschaft zu integrieren und gesellschaftliche Aggressionspotentiale zu pazifizieren. Keine noch so geschickte Parteistrategie, kein noch so gutes Parteiprogramm, keine noch so gute politische Führungsmannschaft kann diese Entwicklungen außer Kraft setzen.
Jetzt wird auch die Bundesrepublik von dieser Realität eingeholt und überholt. Die Wiedervereinigung hat diesen Prozeß beschleunigt und verschärft, aber sie hat ihn nicht verursacht. Paradoxerweise haben die ökologische Bewegung der siebziger und achtziger Jahre und die Grünen als politische Partei die Bundesrepublik durch einen politischen, aber auch ökologisch-technologischen Modernisierungsschub zu einer Zeit stabilisiert, als in den westlichen Nachbarländern die Krisensymptome schon deutlich hervortraten. In der Bundesrepublik hatte die Unzufriedenheit mit dem politischen System und den Parteien in den Neuen Sozialen Bewegungen und den Grünen ein Ventil gefunden, und das politische System war bei aller Widerständigkeit flexibel genug, Themen und Ideen der neuen politischen Kräfte institutionell zu integrieren und dadurch zu entschärfen.
Protest wird Partei
Heute ist diese Fähigkeit erschöpft, genauso wie die Mobilisierungsfähigkeit der Neuen Sozialen Bewegungen seit langem erschöpft ist. Protest und Unzufriedenheit suchen sich neue Ventile und wandern jetzt nach rechts. Mit einer gewissen Verschiebung auf der Zeitachse ist dies, wenn man auf die Entwicklung der westlichen Nachbarländer guckt, sogar ein Prozeß einer nachholenden Normalisierung. Es ist pure Illusion zu glauben, dieser Spuk würde sich in Kürze wieder auflösen. Auch als die Grünen die politische Bühne betraten, hieß es zunächst, es handele sich um reine Proteststimmen. Zehn Jahre später hat sich die Partei – von einigen Ausrutschern abgesehen – fest im parlamentarischen Betrieb etabliert.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß dieser Prozeß bei den Rechtsparteien anders verlaufen wird. Gleichzeitig plädiere ich für eine Entdramatisierung dieser Entwicklung. Deutschland wird deshalb nicht — wie in den Beschwörungsformeln einiger linker Intellektueller — zu den Anfängen des Nationalsozialismus zurückkehren. Schließlich ist auch Frankreich trotz Le Pen nicht zu einem undemokratischen Gemeinwesen mutiert. Im gewissen Sinne ist eine Parlamentarisierung der Rechtsparteien sogar weniger gefährlich als die Formierung einer frei vagabundierenden rechten Sammlungsbewegung mit vielen verschiedenen Gruppen und Zentren.
Krisenmanagement
Demokratie und Marktwirtschaft verfügen nur über eine unzureichende affektive Bindungskraft, sie sind, wie Ralf Dahrendorf zu Recht bemerkte, cold projects. Sie unterwerfen das Individuum keinem verpflichtenden Gemeinschaftsideal, und sie produzieren keinen Lebenssinn. Das ist ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche. Heute können sich demokratische Gesellschaften weniger denn je auf die Tugenden ihrer BürgerInnen verlassen. Sie brauchen Institutionen und institutionelle Verfahren, die das Funktionieren der Gesellschaft jenseits der Tugenden ihrer Bürger sicherstellen und zivilisierte Formen der Konfliktaustragung unterschiedlicher Interessen ermöglichen. Aber das allein ist zu wenig. Das politische System muß sich zugleich im Sinne von Angeboten für die Partizipation der BürgerInnen und ihrer freien Vereinigungen öffnen.
Im Hinblick auf die Bundesrepublik sind die Möglichkeiten partizipatorischer Öffnung noch keinesfalls ausgeschöpft. Die Stärkung demokratischer Mitwirkungs- und Teilhaberechte, die Dezentralisierung politischer Machtstrukturen und die Kontrolle staatlicher Macht, die Erweiterung autonomer Gestaltungsräume und Öffentlichkeiten sind berechtigte und notwendige Anliegen in der zivilen Gesellschaft. Darüber hinaus erfordert ein erfolgreiches Krisenmanagement die geballte Intelligenz aller am politischen Prozeß Beteiligten, um die Steuerungsfähigkeit und Selbststeuerungsfähigkeit komplexer und hochgradig ausdifferenzierter Gesellschaften aufrechtzuerhalten und zu verbessern. Parteienübergreifende Konsenssuche nach Problemlösungen oder zumindest Problementschärfungen müssen stärker denn je die notwendige Selbstprofilierung der politischen Parteien ergänzen. Lothar Probst
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