■ Die Bundesrepublik als Meisterin des Mittelwegs: Da bleibt keine Wahl
Die deutschen Wähler haben noch keine Bundesregierung abgewählt, und bei keiner der bisherigen zwölf Bundestagswahlen haben sie den Oppositionsführer zum Kanzler befördert. Stets erhielt eine amtierende Koalition das Mandat zum Weitermachen. Nur der alleinregierende Adenauer wurde vor langer Zeit einmal um seine absolute Mehrheit gebracht und mußte die FDP wieder hinzuziehen. Neuer Kanzler: Adenauer.
Immerhin hätten die Wählerinnen und Wähler aber gedurft, was sie bisher nicht gewollt haben: einen Regierungswechsel bewirken. Die Spannung jeder Wahl nährt sich von der Möglichkeit einer Premiere: Vielleicht werden in diesem Herbst die Amtsinhaber nach Hause geschickt. Die rot-grüne Hoffnung bedarf freilich zu ihrer Erfüllung noch weiterer Voraussetzungen. Da ist zunächst eine SPD-Führung, die diese Koalition allenfalls als drittbeste Lösung ansieht. Vorausgesetzt, die Sitzverteilung und das SPD-Präsidium gestatten es – auf die Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit könnte ein Kabinett Scharping/Fischer erst einmal nicht bauen. Man könnte sich trösten, die sei für einen Regierungswechsel auch gar nicht erforderlich. Als der Vizekanzler Brandt an einem der letzten Tage unserer Roaring sixties zum Kanzler gewählt wurde, vertraten die frischgewählten Abgeordneten von SPD und FDP gerade 48 Prozent der Wähler, vor Beginn der Amtszeiten von Erhard, Kiesinger und Kohl fanden gar keine Wahlen statt. Es reichte ein Koalitionsvertrag, und im nachhinein haben die Stimmbürger sich einverstanden erklärt.
Diese Regierungswechsel fanden jedoch unter Bedingungen statt, welche das fehlende Wählervotum erst einmal kompensierten. Besonders Brandt und Kohl konnten darauf vertrauen, daß sich ihre Wahl im Einklang mit einer Tendenzwende befand, die von maßgeblichen Teilen der Eliten längst vollzogen war. Zum Mechanismus politischer Umbrüche gehören Neuorientierungen der Wirtschaft, intellektuelle Bewegungen, bewußte Änderungen der Lebensweise oder breit verankerte Forderungen, die der Regierungsapparat nicht erfüllen will.
Wo wäre diese Tendenzwende bei uns? Die Rücknahme von Verpackungen im Einzelhandel und die Viertagewoche bei VW reichen kaum als Indizien einer Wende hin zum ökologisch sozialen Wirtschaften. Rot-Grün will Initialzündung sein. Käme die Koalition ins Amt, stünde sie schon mit der bescheidensten Steuerreform auf einem verloren-bürokratischen Posten. Parteien, die nicht einmal in der leichten Rolle der Opposition für ihre Ziele zu mobilisieren imstande sind, werden erst recht als Regierung in ihren Wählern allenfalls wohlmeinende Zuschauer, aber keine unterstützende Bewegung finden. Im Zentrum ihrer Arbeit dürfte der Streit stehen, wie weit den Wohlstandschauvinisten und den Rassisten entgegenzukommen ist.
Auch in anderer Hinsicht wiche eine rot-grüne Regierungsbildung von der Regel ab: Noch nie gab es in Bonn den Austausch aller Kabinettsmitglieder. Bislang blieb stets eine Partei mit bestimmten Ressortchefs im Amt. Das Wesen der bundesdeutschen Regierungsform besteht in der Kontinuität, während das Wesen der Wahlfreudigkeit gerade darin besteht, die Erzwingung einer radikalen Kursänderung für jederzeit möglich zu halten.
Die Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten auf einfallsreichste Weise der Bewahrung des Mittelwegs verpflichtet: durch das Bundesverfassungsgericht, den Bundesrat mit seinem Vermittlungsausschuß, die Gewaltenteilung mit den Ländern, die Fachministerkonferenzen, wo pragmatische Lösungen gesucht werden, die in dem einen oder dem anderen Lager noch nicht mehrheitsfähig sind.
Während zum einen die Voraussetzungen eines politischen Kurswechsels fehlen, sind die Institute politischer Kontinuität einigermaßen intakt. Nur die amtierenden Personen wirken ausgelaugt. Unter diesen Bedingungen haben Nachwuchsstaatsmänner dann eine reale Chance, wenn sie bereit sind, sich in Form und Inhalt dem politischen Establishment anzupassen. Auf diesen Nachweis vorhandener Kabinettsreife ist die Selbstpräsentation führender Politiker von SPD und Bündnis 90/ Grüne bereits heute ausgerichtet. Ihre Parteien folgen ihnen darin. Sie wollen weniger Partei nehmen (indem sie Überzeugungsarbeit für als richtig erkannte Ziele leisten) denn vielmehr die Mandatsmehrheit gewinnen (und geben sich als Programm).
Die SPD ist, vielleicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte, ernsthaft bemüht, alle linken Illusionen über künftiges Regierungshandeln vorab auszuräumen. Sie hat die Oppositionsbänke im Parlament schon geräumt, bevor sie die Regierungsbank erreichte. Eine Oppositionspartei alten Schlages zeichnete sich dadurch aus, daß sie behauptete, sie würde es ganz anders machen, wenn man sie nur ließe – auf heutige Verhältnisse übertragen beispielsweise: keinen Lauschangriff, keine Privatisierung von Post und Bahn, keine Umlegung des Arbeitgeberanteils zur Pflegeversicherung auf die Arbeitnehmer.
Daß die Opposition dieses andere lautstark einforderte, bedeutete nicht, daß sie es als Regierung noch durchsetzen mochte. Dann hinderte sie der Sachzwang oder der Koalitionspartner. Die CDU ließ die meisten Ergebnisse sozialliberaler Rechts-, Familien- und Außenpolitik auf sich beruhen, als Kohl endlich Kanzler geworden war, und die SPD hatte den Sozialabbau schon eingeleitet, ehe sie aus der Regierung gedrängt wurde. Im Unterschied zu heute begleiteten die Konkurrenten ihr einvernehmliches Verwaltungshandeln durch die Behauptung, letztendlich miteinander unvereinbare Konzepte zu verfolgen.
Die neue Verwechselbarkeit – ein Zugewinn an Ehrlichkeit, ein Tribut an klügere Wähler? Welche Erwartungen an die Richtungsänderung der Politik sind noch begründet, wenn der Kanzlerkandidat der SPD schon vor den Wahlen den Unternehmern versichert, ihre steuerliche Entlastung und die Senkung der Lohnnebenkosten sei Anliegen der SPD, und den Nato-Verteidigungsministern beteuert, als Kanzler sei er an Parteibeschlüsse natürlich nicht gebunden?
Was immer wir wählen werden, unsere Beteiligung wird kaum dem Enthusiasmus geschuldet sein, höchstens dem enervierenden Zweifel, ob da nicht doch eine Minimalchance zu verpassen sei. Leider ist für Überraschungen nach der Verfassung nicht der Wähler, sondern das Parlament zuständig. Was immer wir wählen werden, wir haben keine Chance, unsere intensivsten Wünsche den Abgeordneten mit auf den Weg zu geben: Wenn ihre Fraktionsspitze die Entscheidung getroffen hat, werden sie sich wieder darauf berufen, Unterworfene ihres Gewissens zu sein. Was immer wir wählen, wir haben kein Recht, unsere Abgeordneten auch nur auf das zu verpflichten, was sie oder ihre Parteiprogramme vorgaben, befördern zu wollen. Uwe Koch
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