■ Die Bundesregierung zieht um – nach Karlsruhe: Verweigert euch!
In einer Gesellschaft von Rechthabern liegt es auf der Hand, daß Gerichte einen legendären Ruf genießen. Wo selbst quakende Frösche Gegenstand höchstrichterlichen Interesses werden und jeder Raser selbst bei zaghaften Tempo-100-Debatten gleich mit Karlsruhe droht, ist verständlich, daß auch Bundesregierung, Parteien und Parlamentsfraktionen diesem Drang zum Recht frönen. Verlierer fühlen sich natürlich grundsätzlich in ihren Grundrechten verletzt, weshalb die Schiedsrichter(innen) vom Bundesverfassungsgericht zweifellos eine gesellschaftshygienische Funktion erfüllen. Doch als Schiedsrichter zu fungieren ist das eine. Gleich das ganze Spiel zu übernehmen jedoch ganz etwas anderes. Was die Politik dem BVG in diesem Frühjahr zumutet, ist für die bundesdeutsche Geschichte beispiellos.
Zuerst eine der wegweisenden gesellschaftspolitischen Fragen überhaupt: Wer entscheidet über den Bauch der Frau, oder wie lange soll Abtreibung noch ein Straftatbestand sein? Zweitens: Ist der Vertrag von Maastricht, im Parlament mittlerweile ratifiziert, verfassungswidrig, sprich, fährt der europapolitische Zug ohne die BRD weiter? Beides sind Entscheidungen, die jede für sich das Potential eines Gerichts eigentlich schon bei weitem übersteigt. Es ist viel darüber geschrieben worden, warum ausgerechnet sieben Männer und eine Frau über die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs entscheiden sollen – aber immerhin geht es um die Fortschreibung einer entwickelten verfassungsrechtlichen Debatte. Noch schwieriger ist dies bei Maastricht. Ob 80 Millionen Deutsche mehrheitlich willens sind, den klassischen Nationalstaat hinter sich zu lassen, ist sicher eher in einer Volksabstimmung als in Karlsruhe zu ermitteln – schließlich ist dies keine juristische Entscheidung.
Die Krönung der Zumutung aber kommt nun mit der Awacs-Entscheidung auf die RichterInnen zu. Die Richter sollen eine Entscheidung fällen, die in einer parlamentarischen Demokratie originäres Gebiet des Parlaments ist: den Einsatz der Armee zu definieren. Warum sollen die RichterInnen die Toten eines Bundeswehreinsatzes in aller Welt auf sich nehmen? Zu den inhaltlichen Fragen kommen die formalen Einwände. Weil die FDP zu feige ist, in Kabinett und Parlament gegen den deutschen Kampfeinsatz zu stimmen, wollen sie sich jetzt hinter den roten Roben verstecken. Da gibt es für Karlsruhe nur eins: Verweigerung aus Gewissensgründen! Jürgen Gottschlich
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