: Die Blüm-GmbH bittet zur Kasse
Was als „Jahrzehnt-Werk“ von der Bundesregierung angekündigt wurde, endet als reines Sparpaket: Die Gesundheitsreform aus dem Hause Blüm / Prinzip der „zusätzlichen Selbstbeteiligung“ durchgesetzt / Wer faule Zähne hat, muß sich künftig auf die Zunge beißen ■ Aus Bonn Oliver Tolmein
Ein Mann sieht rot: „Gewiefte Mitglieder, die die Krankenkassen ausplündern“, Interessenverbände von Ärzten und Versicherten, „die im Kriegszustand mit der Wahrheit stehen“, „ein zentrales Sperrfeuer der Kritik gegen Pflegehilfen und die Festbeträge“. Aber ein Mann - zumal wenn er Minister im Kabinett Kohl ist - bleibt standhaft: „Kein Zurückweichen, sondern erbarmungslose Entschleierung der eigennützigen Interessen aufgebrachter Lobbyisten ist die einzige und richtige Antwort.“ Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der so engagiert gegen das „Anspruchsdenken“ und die „Versorgungsmentalität“ zu Felde zieht, weiß: Angriff ist die beste Verteidigung. Und die beste Verteidigung braucht Blüm schon, um nicht völlig lädiert aus der Debatte um das Gesundheitsreform-Gesetz herauszukommen. Der Widerstand gegen das Gesetzeswerk, das noch vor Jahresfrist als „Jahrzehnt-Werk“ angepriesen wurde, ist mittlerweile noch massiver geworden, als die Kritik an der Steuerreform von Finanzminister Stoltenberg. Die Ursache ist ähnlich: Stoltenbergs Reformwerk, als Geschenk an die FDP/CDU-Lobby gedacht, wurde durch die Finanzierung über die Verbrauchssteuern zur gigantischen Umverteilungsmaßnahme zu Lasten der BezieherInnen von niedrigen und Sozialeinkommen; das Gesundheitsreform-Gesetz, das in seiner ursprünglichen Fassung wenigstens noch als Einstieg in die Verbesserung der Pflegefinanzierung und als Maßnahme zur Beitragssatz-Senkung ausgegeben werden konnte, erweist sich mit den am 13.Oktober im Kabinett beschlossenen Veränderungen als Abschied vom Prinzip der solidarischen Krankenversicherung. Wurde bis dahin von Seiten des Ministeriums behauptet, daß KassenpatientInnen auch weiterhin für die therapeutisch notwendige Basisversorgung keinen Pfennig zuzahlen müßten, hat sich im jetzt zur Verabschiedung vorliegenden Entwurf das Prinzip der zusätzlichen Selbstbeteiligung in allen Bereichen durchgesetzt. Blüm hat damit zwar tatsächlich eine grundlegende Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung eingeleitet - die Stoßrichtung ist aber eine grundsätzlich andere als die versprochene. Die absehbaren schlimmen Folgen für die medizinische Basisversorgung sind es auch, die die Vehemenz und die Breite der Opposition gegen den Gesetzentwurf - vom konservativen Hartmannbund über SPD und Grüne bis zum Reichsbund - erklären.
Am deutlichsten wird der Wandel des Projekts am Beispiel des Krankenhaustagegeldes. Hatte Bundesarbeitsminister Blüm noch im Dezember 1987 verkündet, die fünf Mark, die die Kranken zahlen müßten, seien akzeptabel und würden abgeschafft werden, da die Krankenhausbehandlung zur Basisversorgung zähle, unterschrieb er am 13.Oktober den Kabinettskompromiß, der statt der Streichung eine Verdoppelung des Krankenhaustagegeldes auf 10 Mark vorsieht. Lapidare Begründung: Es hätten noch 270 Millionen Mark eingespart werden müssen.
Die zusätzlich zum Krankenkassenbeitrag zu zahlende Selbstbeteiligung war in der Debatte um die gesetzliche Krankenversicherung schon immer heftig umstritten: Sie belaste die Kranken und bedeute damit einen Abschied vom Solidarprinzip, kritisierten die einen, sie stelle ein Steuerungsinstrument dar und rege zu gesundheitsbewußtem Verhalten an, rechtfertigten sie die anderen. Diese Intention ist aus dem vorliegenden Gesetzentwurf selbst bei gutem Willem aber nicht ablesbar - es sind reine Sparmaßnahmen. Für Brillengestelle beispielqweise zahlt die Kasse künftig statt wie bisher 40 nur noch 20 Mark Zuschuß. Gravierend vor allem ist die Regelung, daß bei Zahnersatz die PatientInnen künftig 40 bis 60 Prozent selber zahlen müssen. Die Bonusregelung, die gesundheitserzieherisch auf regelmäßige Zahnarztbesuche hinwirken soll, ist auf der Kabinettssitzung am 13. Oktober dafür zurechtgestutzt worden: statt eines 15prozentigen gibt es nur einen zehnprozentigen Bonus. Ab 1.1.1992 wird es außerdem bei allen Arzneimitteln, für die kein Festbetrag vereinbart worden ist, zu einer Zuzahlung der PatientInnen von 15 Prozent kommen. Bis 1992 wird die Rezeptgebühr von zwei auf drei Mark erhöht. Vom Solidarbeitrag der Pharmaindustrie, ohne den, so Blüm noch im Sommer 1988, es keine Gesundheitsreform geben werde, ist dagegen heute keine Rede mehr.
„Die Kernstücke der Reform, Festbeträge und Pflege, haben alle Widerstände überwunden“, versucht Blüm das Gesetzeswerk trotz seiner offensichtlichen antisozialen Zielsetzung populär zu verkaufen. Daß der Festbetrag nur für eine äußerst kleine Gruppe von Medikamenten überhaupt durchsetzbar ist und die Finanzierung der Pflege weit hinter den zurückhaltendsten Forderungen der Betroffenenorganisationen zurückbleibt - darüber verliert er kein Wort. Statt dessen geht er gegen die SPD in Stellung, die, weil das Gesetz nicht mehr zu verhindern ist, wenigstens die Beschlußfassung zu verzögern versucht. Ein Antrag auf Beratung eines Antrages, mit dem der Bundestag sich verpflichten soll, einen „ordnungsgemäßen Ablauf der Beratungen zum Gesundheitsreform-Gesetz“ sicherzustellen, wird diese Woche den Anfang bilden. Wird er abgelehnt, ist der Antrag auf eine Geschäftsordnungsdebatte bereits aus der Schublade gezogen - und nach dessen Ablehnung wird eine „aktuelle Stunde“ gefordert werden. Und das Schöne daran ist: selbst um die vielen SPD Anträge ablehnen zu können, muß der Ausschuß für Arbeit und Soziales seine Beratungen der etwa 800 Änderungsanträge zum Gesundheitsreformgesetz unterbrechen. Bis zu dessen 3.Lesung, die für den 11.11.88 geplant ist, spekulieren SPDlerInnen, wird der Ausschuß das Gesetzespaket also nicht durchgeackert haben können beschließt der Bundestag aber erst später, kommt der Bundesrat, der seine letzte Sitzung dieses Jahr am 16.12.88 hat, in Zeitverzug. Schlecht Ding will Eile haben.
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