■ "Die Bahn hat keine Lobby": Im "Interregio" von Berlin nach Schwerin sprach Michael Sontheimer mit dem Vorstandschef von Bundes- und Reichsbahn, Heinz Dürr, über die Bahnreform
Am 1. Januar 1994 soll es zur großen Reorganisation der deutschen Eisenbahnen kommen. Ist dieser bürokratische Koloß – Sie nennen ihn gerne „Behördenbahn“ – reif für die Bahnreform?
Dürr: Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen und die Finanzierungsfragen vom Eigentümer, das heißt der Bundesrepublik Deutschland, gelöst sind, kommt die innere Bahnreform. Es geht um die Kernfrage: Ist weiterhin die Vorschrift die Mutter aller Dinge oder geben wir Einzelnen Verantwortung oder betriebswirtschaftich gesehen ein Budget? Wir wollen die Verantwortung dorthin bringen, wo der Eisenbahnbetrieb tatsächlich stattfindet – vor Ort. Das auf dem Papier festzulegen, ist relativ einfach, es umzusetzen ist sehr schwierig.
Die Bahn ist eine traditionsreiche Subkultur mit einer sehr speziellen Mentalität. Wie wollen Sie die Beschäftigten umerziehen?
Wir haben ein Programm namens „Brücke" aufgelegt, in dem 100.000 der knapp 400.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bundesbahn und Reichsbahn in Kursen von drei Tagen bis zu drei Wochen für die AG geschult werden – nicht umerzogen. Daneben gibt es Gruppen, die sich mit der Umsetzung der Organisationsstruktur in die Region befassen. Der Vorstand ist relativ leicht zu organisieren, das Problem liegt unten, bei der Dienststelle.
Stoßen Sie bei den Beschäftigten auf Widerstand?
Wir haben vor kurzem eine Umfrage machen lassen. Bei der zeigte sich, daß etwa 70 Prozent der Beschäftigten für die AG sind. Die Leute sind bereit, die Bahnreform mitzumachen, und sie wissen, daß die Bahn vollends den Bach runtergeht, wenn jetzt nicht etwas Fundamentales passiert.
Reicht dieses Wissen aus?
Naturgemäß wird es dann problematisch, wenn es an den ureigenen Arbeitsplatz geht. Ein Lokführer weiß, daß er weiter Lokomotiven fahren wird. Für einen Mitarbeiter der Verwaltung stellt sich die Frage, ob sein Arbeitsplatz morgen nicht andere, zusätzliche Qualifikationen verlangt.
Sie sprachen von den gesetzlichen und finanziellen Voraussetzungen. Ist die nötige Grundgesetzänderung und die Klärung der Finanzierung bis Ende dieses Jahres geleistet?
Der politische Wille der Bundesregierung ist da. Der Bundesverkehrsminister und der Kanzler selbst haben gesagt, spätestens zum 1. Januar muß die Bahnreform kommen. Die Frage der Finanzierung über den Bundeshaushalt ist an sich geklärt. Ein Punkt der noch offen ist, in dem sich aber eine Annäherung abzeichnet, ist die Frage der Finanzierung des Regionalverkehrs, der in Zukunft von den Ländern verantwortet werden soll. Wir bekommen für den Personennahverkehr vom Bund im Jahr 7,7 Milliarden Mark; unsere eigenen Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrkarten belaufen sich auf rund 3 Milliarden.
Diese 7,7 Milliarden sollen künftig die Länder erhalten, die dann bei uns Bestellungen aufgeben. Da sagen die Vertreter der Länder, das reiche nicht, weil wir bisher Verluste gemacht haben. Darüber verhandelt der Bundesverkehrsminister Wissmann mit den Ministerpräsidenten. Wir als Bahn haben fest zugesagt, wenn der Betrag, den wir heute vom Bund bekommen, zukünftig von den Ländern an uns gezahlt wird, werden alle Nahverkehrszüge wie bisher fahren.
Sie rechnen damit, daß die ausstehende Einigung fahrplanmäßig kommt?
Ja. Es will keiner in den Vermittlungsausschuß.
Kritiker der Bahnreform prophezeien, daß die finanziell attraktiven Langstrecken ausgebaut werden, aber der Nahverkehr auf der Strecke bleibt.
Das ist eine Frage, die von den Auftraggebern, den Gebietskörperschaften, beantwortet werden muß, von denen, die die Züge bestellen. Die müssen sich schon überlegen, ob es Sinn macht. einen Zug nach Hintertupfing fahren zu lassen, bei dem eine Lok mit 1500 PS drei Wagen zieht, in denen jeweils zwei Leute sitzen.
Das wäre ökonomisch und, ich betone, auch ökologisch besser mit einem Kleinbus zu machen. Entscheidend ist, daß die Fahrpläne von dem Zug und dem Bus miteinander verknüpft werden: Ein Fahplan, eine Fahrkarte, ein Fahrpreis. Wir sind schon deshalb am Nahverkehr interessiert, weil er mit etwa 40 Prozent des Umsatzes unser größtes Geschäftsgebiet ist.
Das Ziel der Bahnreform ist es, aus einer traditionsreichen bis skurrilen Behörde ein leistungsfähiges Unternehmen in einer Marktwirtschaft zu machen. Ist die Bahn nicht – ebenso wie beispielsweise die Wohnungspolitik – ein Feld, auf dem das pure marktwirtschaftliche Prinzip den sozialen Ansprüchen nicht gerecht werden kann und unzumutbare Ungleichheit schaffen würde?
Verkehrspolitik insgesamt kann man nicht rein marktwirtschaftlich betreiben. Der Markt denkt immer relativ kurzfristig. Verkehrspolitisch umsteuern ist aber ein längerdauernder Prozeß. Es ist eine politische Entscheidung, die Bahnreform zu machen.
Ihr oberstes Ziel ist es, mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen, Voraussetzung dafür ist die betriebswirtschaftliche Sanierung. Die Bahnreform ist Ausdruck des politischen Kurswechsels, eben mehr Verkehr auf die Schiene zu leiten. Wenn man es rein betriebswirtschaftlich machen würde, könnte man den ganzen Laden runterkloppen, vieles stillegen, also die Schrumpfbahn.
Ist der politische Wille, mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen, wirklich so stark?
Die Bundesregierung meint es ernst mit der Bahnreform. Sie stellt erhebliche finanzielle Mittel für die Reform zur Verfügung und sie steht zu der Auseinandersetzung, daß 400.000 Leute aus dem öffentlichen Dienst herausgelöst werden sollen. Alle Verkehrspolitiker, die ich kenne – auch die der Opposition – sagen, mit der Bahn muß etwas grundsätzliches geschehen. So wie bisher kann es nicht weitergehen.
Welche Konzepte gibt es für den Güterverkehr, den die Bahn mehr und mehr an die Straße verloren hat?
Es gab über Jahrzehnte kaum Innovationen auf diesem Gebiet. Deshalb ist der Schienengüterverkehr dort zu teuer, wo er direkt mit dem LKW konkurriert. Und ökologisch vernünftiges Verhalten wird ja in unserem System nicht honoriert. Wenn der Spediteur sieht, daß der LKW für einen Transport eine Mark billiger ist, nimmt er den LKW.
Bei uns gibt es zwei wichtige Ansatzpunkte zur Rationalisierung: Das Rangieren, das ziemlich teuer ist, und die Schnittstelle zwischen Straße und Schiene. Das Umladen kann technisch verbessert werden. Es bedarf hier größerer Investitionen, aber dann können wir die Bahn wieder konkurrenzfähig machen. Auf eines muß ich allerdings hinweisen: Es muß eine einigermaßen gerechte Anlastung der Wegekosten für alle Verkehrsträger geben.
Sie rechnen hier mit weiterer politischer Unterstützung?
Ja. Sie müssen aber auch sehen, daß die Politik – hierzulande hängt jeder sechste Arbeitsplatz von der Automobilindustrie ab – in der derzeitigen Lage vorsichtig ist, diese Industrie noch weiter zu belasten. Wir müssen das mittel- bis langfristig sehen und auf Innovation setzen.
Wann werden solche Innovationen realisiert sein?
Das ist ein laufender Prozeß. Erste Ergebnisse haben wir in zwei, drei Jahren.
Streben Sie eine bessere Kooperation mit den Speditionen an?
Ohne die Speditionen läuft gar nichts. Es gibt da Irritationen, wir müssen die Konfrontation entkrampfen. Wir müssen den Spediteuren einen Anreiz schaffen, ihre Ware auf die Schiene zu bringen. Der Anreiz kann in kostengünstigen Angeboten liegen, aber auch darin, daß die Fahrzeiten des LKW immer unkalkulierbarer werden, weil er immer öfter im Stau steckenbleibt.
Bei der Bahn herrscht aber die Mentalität vor: Wir können und machen alles selber.
Nicht überall, aber leider zu oft. Das werden wir dadurch ändern, daß wir an der einen oder anderen Stelle eine Führungskraft von außen holen.
Sie haben im vergangenen Jahr ihren Personalräten versprochen, daß niemand entlassen würde.
Sowohl der Bundeskanzler als auch der Vortand der Bahnen haben gesagt, daß es wegen der Gründung der AG nicht zu beriebsbedingten Entlassungen kommen wird - Flexibilität und Mobilität vorausgesetzt. Wenn allerdings die Verkehrsleistung gewaltig zurückgeht, muß man auch über andre Dinge nachdenken. Bei der Reichsbahn haben wir bis Jahresende einen Mehrbestand von etwa 20.000 Mitarbeitern. Wir versuchen für sie sozialverträgliche Lösungen zu finden und haben ein Umschulungsprogramm gestartet, das es Eisenbahnern ermöglicht, auch in anderen Branchen einen qualifizierten Arbeitsplatz zu finden.
Die Bundesbahn hat derzeit 220.000 Beschäftigte, die Reichsbahn am Jahresende 160.000. Wieviele Beschäftigte wird die Bahn im Jahr 2000 haben?
Legt man den heutigen Verkehr zugrunde und setzt voraus, daß die Reichsbahn auf den technischen Standard der Bundesbahn gebracht wird, werden es um die 260.000 sein.
Wo landen die rund 130.00 Beamten der Bundesbahn?
Arbeitsmäßig bei der Bahn, formal beim Restsondervermögen. Die Beamten werden von dort quasi an die AG ausgeliehen.
Sie haben gesagt, daß die Bahn AG schon im ersten Jahr schwarze Zahlen schreiben werde. Wie soll das gelingen?
Das ergibt sich zwangsläufig dadurch, daß der Eigentümer, also die Bundesrepublik Deutschland, uns finaziell entlastet, wir fast keine Zinsen zu bezahlen haben. Wir haben geringere Personalkosten; die Kosten für die Reparatur der Reichsbahn werden uns abgenommen; die Bilanz wird bereinigt. Und damit ergeben sich rein buchhalterisch schwarze Zahlen. Aber das würde nichts nützen, wenn wir sonst nichts verändern würden. Dann wären die Schulden in küzester Zeit wieder da. Der Eigentümer ermöglicht uns ledigich einen neuen Start; nachhaltig Gewinn zu erzielen ist unsere Aufgabe.
Wenn Sie über die Bahnreform sprechen, argumentieren Sie fast ausschließlich wirtschaftlich. Warum nutzen Sie nicht die ökologischen Vorzüge der Bahn und das gewachsene ökologische Bewußtsein? Warum fahren sie nicht konsequent auf der Ökoschiene?
Das tun wir doch. Aber wir müssen Fakten schaffen. So haben wir uns das Ziel gesetzt, den spezifischen Energieverbrauch bis zum Jahr 2000 um 25 Prozent zu senken. Die Ökoschiene im Güterverkehr ist schwierig, wie ich schon vorher ausgeführt habe. Im Personenverkehr gibt es zwar mehr und mehr Privatpersonen, die aus ökologischen Gründen mit der Bahn fahren. Aber noch ist die vorherrschende gesellschaftliche Einstellung zugunsten des Automobils. Zu einer Bewußtseinsveränderung müssen wir durch entsprechende Angebote beitragen: wir müssen vor allem auch die Bahnhöfe freundlicher und attrakiver machen, die Züge moderner.
Warum kritisieren Sie nicht offensiv den Automobilismus?
Ich bin mehr dafür, durch Leistung zu überzeugen. Auf das Auto einzuschlagen, bringt uns nichts, denn ohne Auto sind wir auch kaputt. Die meisten Leute kommen ohne Auto gar nicht zur Bahn.
Aber das Auto ist doch ihre direkte Konkurrenz. Sie müssen ihre Kundschaft aus dem Auto rausholen.
Das Auto ist auch unser Partner. Wenn wir als Bahn eine gute Leistung bringen, steigen die Leute um. Aber wir können nicht an jede Straße, in jeden Hinterhof eine Schiene legen, sinnvoller Verkehr braucht alle Verkehrsträger. Das Entscheidende wäre zunächst eine Wende in der Verkehrspolitik. Wenn uns die Revitalisierung der Bahn gelingen würde, wäre das ein einmalige Sache.
Bisher war es doch so, daß eine Technologie, die einmal ins Abseits gedrängt wurde, nicht mehr wiedergekommen ist. Die Bahn war der große technologische Fortschrittsbringer des 19. Jahrhunderts. Und jetzt wollen wir sie wieder ganz nach vorne bringen. Das kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft auch ihren Fortschrittsbegriff revidiert.
Sie hoffen auf den gerne zitierten Wertewandel.
Es muß eine Trendwende eintreten. Die hochindustrialisierten Gesellschaften können nicht immer nur schneller, reicher, massiver auftreten. Sie müssen ihren Wohlstand mit anderen teilen. Wir müssen unser Wachstum zurückschrauben und dafür könnte die Rückkehr der Bahn ein Symbol sein. Es stimmt, die Bahn hat nur eine Chance, wenn der Wertewandel sich durchsetzt. Wenn er nur auf Kongressen der Grünen gepredigt wird und der Rest der Gesellschaft als Karawane weiterzieht, hat es die Bahn extrem schwer.
Aber die Politiker, die sich in ihren Daimler-Dienstlimousinen herumfahren lassen, unterstützen Sie nicht unbedingt bei diesem Projekt, den Verkehr von der Straße auf die Schiene umzuleiten. Der Bahn fehlt doch im Gegensatz zum Automobil die Lobby.
Die Bahn hat keine Lobby, sie hat nur Fans. Da wird sich übrigens auch was ändern, wenn wir eine AG sind.
Sie sollen mal gesagt haben, Ihr größtes Unglück wäre es, wenn die Welt unterginge und Sie wären nicht dabei. Können Sie sich vorstellen, daß die Bahn untergeht und Sie sind dabei? Kann die Bahnreform vielleicht noch scheitern?
Vorstellen kann man sich das schon. Aber die Reform ist schon zu weit gediehen. Jetzt müssen wir darauf achten, daß wir die eigentliche, die innere Bahnreform sauber hinkriegen. Es darf nicht geschehen, daß nur ein AG-Schild an die Türe geschraubt wird, und das war es dann im wesentlichen. Es wäre nicht nur für den Vorstand und für mich, sondern für alle Beschäftigten eine Katastrophe. Die Alternative wäre eine staatliche Schrumpfbahn, die den Steuerzahlern noch schwerer als bisher auf der Tasche liegen würde. Das darf nicht sein.
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