Die Ausübung des Denkens

■ Claude Levi-Strauss über Mythos, Rasse und den engagierten Intellektuellen. Auszüge aus einem Gespräch mit Didier Eribon. Unter dem Titel „Das Nahe und das Ferne“ erscheint der ganze Text demnächst im S. Fischer-Verlag.

Didier Eribon: Ich möchte Ihnen eine einfache Frage stellen. Was ist Mythos?

Claude Levi-Strauss: Das ist das genaue Gegenteil einer einfachen Frage, denn darauf läßt sich auf verschiedene Weise antworten. Wenn Sie sie einem amerikanischen Indianer stellten, dann würde er Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit antworten: eine Geschichte aus der Zeit, als die Menschen und die Tiere noch nicht voneinander geschieden waren. Diese Definition scheint mir sehr tief zu sein. Denn trotz der von der jüdisch-christlichen Tradition zu ihrer Bemäntelung verspritzten Tinte scheint keine Situation tragischer, verletzender für Herz und Geist als die einer Menschheit, die mit anderen, auf ein und derselben Erde lebenden Gattungen koexistiert, in deren Genuß sie sich teilen, und mit denen sie nicht kommunizieren kann. Man begreift, daß die Mythen es ablehnen, diesen Makel der Schöpfung für angestammt zu halten; daß sie in seinem Auftreten vielmehr das Ur-Ereignis der Entstehung eines „Wesens“ des Menschen und seiner Hinfälligkeit erblicken.

Man könnte den Mythos auch durch den Gegensatz zu anderen Formen mündlicher Überlieferung definieren: Legende, Märchen... Aber diese Unterscheidungen sind niemals deutlich. Wahrscheinlich spielen diese Formen in den Kulturen nicht genau dieselbe Rolle, doch sie werden vom gleichen Geist hervorgebracht, und der Analytiker kann es sich nicht versagen, sie gemeinsam auszuwerten.

Worin besteht dieser Geist? Wie ich bereits gesagt habe und im Gegensatz zur cartesianischen Methode -, in der Weigerung, die betreffende Schwierigkeit zu zerlegen, sich mit keiner Teilantwort zufriedenzugeben, nach Erklärungen zu streben, die die Gesamtheit der Phänomene umschließen.

Die Eigentümlichkeit des Mythos besteht darin, daß er, mit einem Problem konfrontiert, es als homolog zu anderen Problemen denkt, die sich auf anderen Gebieten stellen: kosmologischen, physischen, moralischen, juristischen, sozialen usw. Und sie alle gemeinsam in Betracht zieht.

Eben das, was die Verschachtelungsspiele erklärt, die Sie herausarbeiten.

Was ein Mythos in einer Sprache sagt, die für einen bestimmten Bereich angemessen erscheint, strömt in alle Bereiche über, in denen sich ein Problem desselben formalen Typus stellen kann.

Gerade die Ähnlichkeit, die alle diese Probleme miteinander haben, vermittelt die Illusion, daß die in einem Fall wahrgenommene Schwierigkeit gar keine ist oder es in anderen Fällen nicht in demselben Maße ist.

Wir räsonnieren auf etwa dieselbe Weise, wenn wir, aufgefordert, eine Erklärung zu geben, mit „immer wenn“ oder „so wie“ antworten. Das mythische Denken jedoch macht von diesem Verfahren auf so geschickte und so systematische Weise Gebrauch, daß es geradezu als Demonstration dafür dienen kann.

Eine andere „einfache“ Frage: Wozu dient der Mythos?

Zur Erklärung dafür, warum die Dinge, die anfangs ganz anders waren, so geworden sind, wie sie sind, und warum sie nicht anders sein können. Weil nämlich, wenn sie sich in einem besonderen Bereich wandelten, aufgrund der Homologie der Bereiche die gesamte Ordnung der Welt in sich zusammenstürzte.

Wie tritt der Mythos in Erscheinung? Er muß doch ein erstes Mal von einem bestimmten Individuum ausgesprochen worden sein!

Sicherlich, aber wenn Sie sich vor Augen halten, daß die Paläontologen den Ursprung der Menschheit immer weiter zurückverlegen, dann werden Sie mir zugeben, daß die Antwort auf Ihre Frage nicht einfach ist. Vor einer oder zwei Millionen Jahren besaßen die Vorfahren des Menschen wahrscheinlich schon die artikulierte Sprache, und nichts spricht dagegen, daß sie Mythen erzählten. Im Laufe der Zeiten haben diese Mythen sich gewandelt, manche sind verschwunden, andere neu entstanden. Unter welchen Bedingungen? Ein bißchen so wie die Pilze, man sieht sie nie wachsen! Eine individuelle Erfindung bildet für sich genommen noch keinen Mythos. Damit sie es wird, muß sie, durch eine geheime Alchemie verwandelt, von der sozialen Gruppe assimiliert werden, weil sie auf deren intellektuelle und moralische Bedürfnisse reagierte. Geschichten entstammen den Mündern von Individuen; manche haben Erfolg und überdauern, andere nicht...

Das Problem des Ursprungs der Mythen ähnelt dem des Ursprungs der Sprache, das aufzuwerfen die Societe de Linguistique de Paris sich feierlich versagt hat, weil die Antworten doch nur auf Vermutungen beruhen können. Vielleicht vermag es die Neurophysiologie des Gehirns eines Tages zu lösen. Jedenfalls wird die Antwort weder von den Anthropologen noch von den Linguisten kommen. Angesichts mythischer Vorstellungen ist es weniger interessant, nach ihrem Ursprung zu fragen als nach der geistigen Einstellung der Menschen zu ihren eigenen Mythen. Von diesen Mythen existieren stets verschiedene Versionen. Nun wählt man allerdings nicht zwischen diesen Versionen, man unterzieht sie nicht der Kritik, man dekretiert nicht, welche davon die einzig wahre oder wahrer als eine andere ist; man akzeptiert sie alle gleichzeitig und läßt sich von ihren Abweichungen durchaus nicht stören. Untersuchungen, die in verschiedenen Weltregionen durchgeführt wurden, bestätigen die Allgemeingültigkeit dieser geistigen Einstellung. Man müßte sie sehr genau studieren und mit unserer Einstellung zur Geschichte vergleichen, von der auch in unseren Gesellschaften verschiedene und manchmal sogar miteinander unvereinbare Versionen in Umlauf sind.

Für Sie ist ein Mythos also die Gesamtheit seiner Varianten, seiner Versionen. Sie versuchen nicht, die authentische Fassung zu bestimmen?

Es gibt keine wahre Fassung, ebensowenig eine authentische oder ursprüngliche Form. Alle Versionen müssen ernstgenommen werden.

Gegen Ende der „Eifersüchtigen Töpferin“ schreiben Sie, daß der Mythos ein „Vergrößerungsspiegel“ der Art und Weise ist, wir wir denken. Ist das die Problematik, die Sie im Gesamtverlauf dieser Reihe von Büchern geleitet hat?

Die Problematik ist die gleiche wie die der Elementaren Strukturen, abgesehen davon, daß es sich statt um soziologische um religiöse Fakten handelt. Die aufgeworfene Frage aber verändert sich nicht. Sollen wir, angesichts eines Chaos von sozialen Praktiken oder religiösen Vorstellungen, damit fortfahren, nach partiellen, für jeden ins Auge gefaßten Fall verschiedenen Erklärungen zu fahnden? Oder sollen wir uns bemühen, eine zugrundeliegende Ordnung, eine Tiefenstruktur ausfindig zu machen, durch deren Wirken sich diese scheinbare Vielgestaltigkeit erklären ließe, mit einem Wort: der Inkohärenz Herr zu werden versuchen? Für verschiedenartige Bereiche stellen Die elementaren Strukturen und die Mythologica genau dieselben Fragen, und die Verfahrensweisen sind identisch.

Aber diese Formel des „Vergrößerungsspiegels“?

In allem, was ich über die Mythologie geschrieben habe, wollte ich zeigen, daß man nie zu einem letzten Sinn vorstößt. Stößt man denn etwa im Leben dazu vor? Die Bedeutung, die ein Mythos für mich oder für die haben kann, die ihnen erzählen oder ihn zu diesem oder jenem Zeitpunkt und unter bestimmten Umständen hören, existiert einzig im Verhältnis zu anderen Bedeutungen, die der Mythos unter anderen Umständen und zu einem anderen Zeitpunkt für andere Erzähler und Hörer haben kann.

Ein Mythos legt einen Raster vor, der nur durch seine Konstruktionsregeln definiert werden kann. Dieser Raster ermöglicht es, einen Sinn zu entziffern, nicht den Sinn des Mythos selbst, sondern alles übrigen: der Bilder der Welt, der Gesellschaft, der Geschichte, die hinter der Bewußtseinsschwelle versteckt liegen, im Verein mit den Fragen, die die Menschen sich dazu stellen. Die Intelligibilitätsmatrix, die der Mythos liefert, erlaubt es, sie zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Diese Rolle, die ich dem Mythos zuschreibe, entspricht der, die Baudelaire der Musik zuwies. Im Zusammenhang mit demLohengrin-Vorspiel zeigt er anhand von Beispielen, daß jedes individuelle Subjekt im Werk einen unterschiedlichen Inhalt wahrnimmt; und doch lassen sich alle diese Inhalte auf eine kleine Zahl invarianter Merkmale zurückführen.

Wenn wir uns ganz allgemein fragen, was das Verbum „bedeuten“ bedeuten soll, dann werden wir gewahr, daß es sich immer darum handelt, in einem anderen Bereich ein formales Äquivalent der Bedeutung ausfindig zu machen, nach der wir suchen. Das Wörterbuch ist die genaue Illustration dieses logischen Zirkels. Die Bedeutung eines Wortes wird anhand von Wörtern angegeben, deren Definition sich ihrerseits wieder auf andere Wörter beruft. Und man kehrt, wenigstens theoretisch, wieder an den Ausgangspunkt zurück, trotz der Anstrengungen, welche die Lexikographen unternehmen, um zirkelförmige Definitionen zu vermeiden.

Wir glauben, die Bedeutung eines Wortes oder einer Idee erkannt zu haben, wenn es uns gelingt, mannigfaltige Äquivalente dafür zu finden, die anderen semantischen Feldern angehören. Die Bedeutung ist nichts anderes als dieses In-Beziehung-Setzen. Das gilt für die Wörter ebenso wie für die Begriffe. Und weil der Mythos anhand von Bildern und Ereignissen vorgeht, die grobe Objekte sind, bietet er dieses Phänomen in roher Form, auf ungeschlachte Weise dar, die aber die ganz allgemeinen Bedingungen der Ausübung des Denkens widerspiegelt.

Im Jahre 1952 haben Sie, in der Studie mit dem Titel „Rasse und Geschichte“, die rein ethnologische Perspektive fahrengelassen, um sich auf eine Ebene zu begeben, die man die „politische“ nennen könnte, die jedenfalls in direkter Berührung mit zeitgenössischen Problemen stand.

Es handelte sich um eine Auftragsarbeit. Ich glaube nicht, daß ich dieses kleine Werk aus eigenem Antrieb geschrieben hätte.

Wie ist die Auftragserteilung vor sich gegangen?

Die Unesco hat verschiedene Autoren gebeten, an einer Reihe von Broschüren über die Rassenfrage mitzuwirken: eine sollte Leiris verfassen, eine ich...

Sie bekräftigen darin die Verschiedenartigkeit der Kulturen, Sie stellen die Fortschrittsidee in Frage, und Sie proklamieren die notwendige „Koalition“ der Kulturen...

Grob vereinfacht, suchte ich nach einem Mittel, um den Fortschrittsbegriff und den Kulturrelativismus miteinander zu versöhnen. Der Fortschrittsbegriff setzt die Idee voraus, daß bestimmte Kulturen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten überlegen sind, weil sie Leistungen hervorgebracht haben, zu denen die letzteren sich nicht in der Lage gesehen haben. Und der Kulturrelativismus, der eine der Grundlagen der ethnologischen Reflexion ist, wenigstens in meiner und der ihr vorausgehenden Generation (denn manche Autoren befehden ihn heute), behauptet, daß kein Kriterium es erlaubt, eine Kultur in absolutem Sinne höher einzustufen als eine andere. Ich habe versucht, das Gravitationszentrum des Problems zu verschieben. Wenn in bestimmten Epochen und an bestimmten Orten Kulturen „in Bewegung geraten“, während andere „bewegungslos verharren“, dann nicht, wie ich sagte, aufgrund einer Überlegenheit der ersteren, sondern deshalb, weil die historischen oder geographischen Umstände ein Zusammenwirken zwischen nicht ungleichen (nichts erlaubt eine derartige Einstufung), sondern unterschiedlichen Kulturen induziert habe. Sie setzen sich in Bewegung, indem sie Anleihen beieinander machen oder einander entgegenzutreten versuchen. Sie befruchten oder stimulieren sich wechselseitig. Während in anderen Epochen und an anderen Orten Kulturen, die als in sich geschlossene Welten isoliert bleiben, ein Leben im Stillstand führen.

Dieser Text ist ein Klassiker des Antirassismus geworden, er wird sogar in den Gymnasien gelesen. Haben Sie, um dieser glatten Vereinnahmung entgegenzuarbeiten, 1971 jenen zweiten Text geschrieben, der den Titel „Rasse und Kultur“ trug?

Er ist ebenfalls aus einem Auftrag der Unesco entstanden, und zwar für einen Festvortrag, der dazu bestimmt war, ein internationales Jahr des Kampfes gegen den Rassismus zu eröffnen.

Was in „Rasse und Kultur“ am meisten schockiert hat, ist wahrscheinlich jene Idee, daß die Kulturen zueinander in Gegensatz treten wollen.

Gegen Ende von Rasse und Geschichte habe ich eine Paradoxie hervorgehoben. Es ist die Unterschiedlichkeit der Kulturen, die ihre Begegnung befruchtet. Nun zieht aber dieses Zusammenwirken ihre fortschreitende Uniformisierung nach sich: Die Vorteile, welche die Kulturen aus diesen Kontakten ziehen, rühren weitgehend von den qualitativen Abständen her, die sie trennen; im Zuge der Tauschakte jedoch mindern sich diese Abstände bis zum völligen Verschwinden. Ist es nicht genau das, was wir heute als Zeugen miterleben? Und, nebenbei sei's gesagt, jene Idee, daß die Kulturen in ihrer Evolution zu wachsender Entropie neigen, die aus ihrer Mischung resultiert - in einem Text vorgetragen, der, wie Sie gerade sagten, zu einem Klassiker des Antirassismus geworden ist (worüber ich mich freue) -, leitet sich geradewegs von Gobineau her, der ja sonst als Vater des Rassismus gebrandmarkt wird. Und das zeigt zu deutlich, welche Verwirrung gegenwärtig in den Köpfen herrscht.

Die Ansichten Gobineaus haben übrigens eine sehr moderne Färbung, denn er erkannte bereits, daß sich Inseln von Ordnung unter dem Einfluß dessen bilden können, was er - und auch das ist sehr modern - eine „Korrelation in den verschiedenen Teilbereichen der Struktur“ nannte. Dafür hat er Beispiele geliefert. Diese gelungene Ausgewogenheit von Mischungen, dessen ist er sich bewußt, arbeitet einem Verfall entgegen, den er für unwiderruflich hält.

Was soll man aus alledem schließen, es sei denn, daß es wünschenswert ist, daß die Kulturen an ihrer Verschiedenartigkeit festhalten oder daß sie sich darin erneuern? Man muß nur - und eben darauf verwies der zweite Texte - bereit sein, den Preis dafür zu entrichten: daß nämlich Kulturen, die jeweils einem bestimmten Lebensstil, einem bestimmten Wertesystem verhaftet sind, über ihre Partikularismen wachen und daß diese Disposition gesund und keineswegs - wie man uns glauben machen möchte pathologisch ist. Jede Kultur entwickelt sich dank dem Austausch mit anderen Kulturen. Es muß aber jede Kultur dem auch einen gewissen Widerstand entgegensetzen, sonst hat sie sehr bald nichts Eigenes mehr, das sich austauschen ließe. Das Fehlen und das Übermaß an Kommunikation haben beide ihre Gefahren.

Was täten Sie, wenn die Unesco Sie heute um einen neuen Vortrag über dasselbe Thema bäte?

Da besteht keine Gefahr!

Aber Zeitungen und Rundfunkredaktionen holen häufig Ihre Meinung zur Frage des Rasismus ein, und im allgemeinen lehnen Sie es ab zu antworten...

Ich habe keine Lust zu antworten, weil auf diesem Gebiete totale Verwirrung herrscht und weil ich im voraus weiß, daß ich, was ich auch sage, falsch verstanden werde. Als Ethnologe bin ich überzeugt, daß die rassistischen Theorien ungeheuerlich und absurd zugleich sind. Wenn man aber den Begriff des Rassismus einebnet, indem man ihn geradezu blindlings anwendet, entleert man ihn seines Inhalts und läuft Gefahr, beim entgegengesetzten Resultat von dem anzulangen, was man suchte. Denn was ist der Rassismus? Eine genau umrissene Doktrin, die sich in vier Punkten zusammenfassen läßt. 1. Es besteht eine Korrelation zwischen dem genetischen Erbteil einerseits und den intellektuellen Fähigkeiten und sittlichen Dispositionen andererseits. 2. Dieses genetische Erbteil, von dem jene Fähigkeiten und Dispositionen abhängen, ist allen Mitgliedern bestimmter menschlicher Gruppierungen gemeinsam. 3. Diese „Rassen“ genannten Gruppierungen lassen sich im Verhältnis zur Qualität ihres genetischen Erbteils hierarchisch gliedern. 4. Diese Unterschiede ermächtigen die sogenannten überlegenen „Rassen“, die anderen zu befehligen, auszubeuten und eventuell sogar zu vernichten. Eine Theorie und eine Praxis, die aus einer Vielzahl von Gründen unhaltbar sind, wie ich, im Gefolge anderer Autoren oder gleichzeitig mit ihnen, in Rasse und Kultur mit ebensolchem Nachdruck dargelegt habe wie in Rasse und Geschichte. Das Problem der Beziehungen zwischen Kulturen liegt in einem anderen Bereich.

Die Feindseligkeit einer Kultur gegenüber einer anderen ist also für Sie kein Rassismus?

Die aktive Feindseligkeit: ja. Nichts kann eine Kultur ermächtigen, eine andere zu unterjochen oder gar zu vernichten. Diese Negation des Anderen hätte sich unausweichlich auf transzendente Gründe zu stützen, nämlich rassistische oder gleichwertige. Daß aber Kulturen, wenngleich sie einander respektieren, mehr oder weniger große Affinitäten zueinander verspüren können, ist eine ganz reale Situation, die zu allen Zeiten vorgekommen ist. Sie liegt im Normalbereich menschlicher Verhaltensweisen. Brandmarkt man sie als rassistisch, läuft man Gefahr, dem Gegner in die Hände zu spielen, denn viele Naive werden sich sagen: wenn das Rassismus ist, dann bin ich eben Rassist.

Sie wissen, welche Anziehungskraft für mich Japan hat. Wenn ich in Paris in der Metro ein japanisch anmutendes Paar sehe, betrachte ich es mit Interesse und Sympathie und bin bereit, ihm behilfich zu sein. Ist das Rassismus?

Wenn Sie es mit Sympathie betrachten: nein; aber wenn Sie mir gesagt hätten: ich betrachte es mit Haß, hätte ich Ihnen geantwortet: ja.

Und doch habe ich mich nach dem Äußeren gerichtet, nach dem Verhalten, nach dem Klang der Sprache. Im Alltagsleben macht das jeder so, um einen Unbekannten auf der geographischen Karte einzuordnen... Es bedürfte einer beträchtlichen Heuchelei, wenn man diese Art der Einschätzung verbieten wollte.

Gibt es körperliche Merkmale, die Ihnen Antipathie einflößen?

Wollen Sie sagen: ethnische Typen? Nein, sicher nicht. Alle umfassenden Unterarten, von denen die einen für uns anziehend wirken, die anderen nicht. In bestimmten Indianergemeinschaften Brasiliens fühlte ich mich von schönen Wesen umgeben; andere boten mir das Schauspiel einer heruntergekommenen Menschheit. Die Nambikwara-Frauen kamen mir im allgemeinen schöner vor als die Männer; bei den Bororo war das umgekehrt. Wenn wir solche Urteile fällen, dann wenden wir die kanonischen Maßstäbe unserer eigenen Kultur an. Im vorliegenden Fall gelten einzig und allein die der Beteiligten.

Ich gehöre ebenso einer Kultur an, die einen eigentümlichen Lebensstil, ein ganz eigenes Wertesystem hat, und gänzlich andersgeartete Kulturen ziehen mich nicht automatisch an.

Sie mögen sie nicht?

Das wäre zuviel gesagt. Wenn ich sie als Ethnologe untersuche, tue ich das mit aller Objektivität und sogar aller Empathie, deren ich fähig bin. Das hindert aber nicht, daß bestimmte Kulturen mit meiner eigenen weniger leicht zusammenpassen als andere.

Wenn man Sie zum Rassismus befragt, dann geht es gewöhnlich weniger um die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Kulturen auf unterschiedlichen Kontinenten als um die französische Gesellschaft von heute und um das, was man „plurikulturelle Gesellschaft“ nennt. Letztes Jahr wurde sogar das Gerücht laut, daß die Regierung daran gedacht habe, Ihnen den Vorsitz in der Kommission zur Reform des „Code de la nationalite“ (Staatsangehörigkeitsbestimmungen) anzutragen, dann aber darauf verzichtet habe, weil es schockierend hätte wirken können, wenn dazu ein Ethnologe aufgefordert worden wäre.

Wenn das, was Sie sagen, richtig ist, dann wäre es immerhin pikant, daß man die Einwanderer zu schockieren fürchtete, wenn man sie den Völkern gleichstellte, die die Ethnologen untersuchen, so als ob man implizit zwischen den Kulturen eine Hierarchie aufstellte.

Wenn ich Ihre Definition des Rassismus recht verstehe, sind Sie der Meinung, daß es im heutigen Frankreich keinen Rassismus gibt.

Man kann beunruhigende Phänomene beobachten, die aber - es sei denn, ein Araber wird getötet, weil er Araber ist, was sofortige und mitleidlose Bestrafung verdient - nicht auf Rassismus im strengen Sinne des Wortes schließen lassen. Es gibt und wird immer Gemeinschaften geben, die sich gehalten fühlen, mit anderen, deren Werte und Lebensart ihre eigenen nicht verletzen, zu sympathisieren; mit den anderen weniger. Was wiederum nicht hindert, daß sogar die Beziehungen zu diesen letzteren ungetrübt bleiben können und müssen. Wenn meine Arbeit Stille erfordert und eine ethnische Gesellschaft Lärm gut verträgt oder gar Gefallen daran hat, dann werde ich sie nicht rügen und auch nicht ihr genetisches Erbteil beschuldigen. Dennoch werde ich es vorziehen, ihr nicht allzu nahe zu kommen, und es wenig schätzen, wenn man mich unter diesem bösartigen Vorwand schuldig zu sprechen versucht.

Kann eine Gesellschaft im Jahre 1988 monokulturell sein, in Ansehung der Verschmelzungen von Populationen, der Völkerwanderungen, der Einwanderung...

Monokulturell sagt nichts aus, weil es nie eine Gesellschaft gegeben hat, die so beschaffen gewesen wäre. Alle Kulturen erwachsen aus Verschmelzungen, Anleihen, Mischungen, die sich unaufhörlich weitervollziehen, wenn auch in anderen Rhythmen, seit Anbeginn der Zeiten. Obschon aufgrund ihrer Entstehungsweise allesamt plurikulturell, haben die Gesellschaften im Laufe der Jahrhunderte doch jeweils eine originäre Synthese erarbeitet. An dieser Synthese, die ihre Kultur zu einem gegebenen Zeitpunkt konstituiert, halten sie mehr oder weniger streng fest. Wer sollte leugnen, daß es heute eine japanische, eine amerikanische Kultur gibt, sogar bei Berücksichtigung innerer Differenzen? Es gibt kein Land, das in stärkerem Maße das Produkt einer Mischung ist als die Vereinigten Staaten, und doch existiert ein „Amercan way of life“, dem sich alle Bewohner verschreiben, ohne Rücksicht auf ihre ethnische Herkunft.

Da Sie mich zu Frankreich befragen, will ich Ihnen antworten, daß sein Wertesystem im 18. und 19.Jahrhundert für Europa und weit darüber hinaus ein Anziehungspol war. Die Assimilation der Einwanderer warf keinerlei Probleme auf. Mehr davon gäbe es wohl auch heute nicht, wenn unser Wertesystem, von der Volksschule an und auch später, allen Mitbürgern ebenso solide, ebenso lebendig erschiene wie in der Vergangenheit.

Alle westlichen Gesellschaften haben sich sichtlich mit diesem Problem der unmöglichen Assimilation auseinanderzusetzen: England, Deutschland... Die Koexistenz von Kulturen scheint dort ebenso schwierig zu sein wie in Frankreich.

Wenn die westlichen Gesellschaften nicht mehr in der Lage sind, geistige und sittliche Werte zu bewahren oder zu begründen, die gewichtig genug sind, von außerhalb kommende Menschen anzuziehen und zur Aneignung und Übernahme zu bewegen, dann gibt es zweifellos Grund, sich zu beunruhigen.

Ihre Arbeiten und vor allem die Texte, die wir gerade erwähnt haben, sind oft als Parallelen zu Entkolonialisierungsbestrebungen gedeutet worden. Was halten Sie davon?

Ich lese das von Zeit zu Zeit. Kürzlich habe ich sogar gelesen, daß der Erfolg der Traurigen Tropen mit dem Aufstieg des „tiers-mondisme“ (Politik zur Förderung der Dritten Welt) in Zusammenhang stünde. Darin liegt ein Widersinn. Die Gesellschaften, deren Verteidigung ich übernommen oder deren Zeuge zu sein ich mich bemüht habe, sind vom „tiers-mondisme“ weitaus stärker bedroht, als sie es vom Kolonialismus waren. Die Regierungen der Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen worden sind, haben keinerlei Nachsicht mit den sogenannten zurückgebliebenen Kulturen gezeigt, die noch in ihrer Mitte existieren. Und es gibt einen zweiten Grund, dessen Eingeständnis Ihnen vielleicht zynisch erscheinen mag: Ich befasse mich nicht mit Menschen, sondern mit Glaubensinhalten, mit Bräuchen und mit Institutionen. Ich verteidige diese kleinen Völker, die ihrer traditionellen Lebensweise treu zu bleiben beabsichtigen, also abseits und im Schatten der Konflikte, die die moderne Welt entzweien. Diejenigen, die aus diesem Zustand heraustreten und in unseren Konflikten Partei ergreifen, werfen politische und sogar geopolitische Probleme auf; jeder weiß, daß sich auf diesem Gebiet die Gewissensfragen nur selten auf einer einzigen Seite stellen.

Sie begegnen dem „tiers-mondisme“ mit größerem Mißtrauen als der Entkolonialisierungspolitik?

Der Kolonialismus war die Todsünde des Westens. Hinsichtlich der Vitalität und der Pluralität der Kulturen sehe ich gleichwohl nicht, daß sein Verschwinden einen großen Sprung nach vorne bedeutet hätte.

Sie beziehen nicht gern öffentlich Stellung? Sie sind kein engagierter Intellektueller?

Nein. Ich bin der Meinung, daß meine intellektuelle Autorität, in dem Maße, wie man mir überhaupt welche zuerkennt, auf dem Arbeitsbeitrag, auf den Skrupeln an Strenge und Genauigkeit beruht, die dafür bürgen, daß ich mir in begrenzten Bereichen das Recht auf Gehör erworben habe. Wenn ich darauf poche, um bei Fragen mitzureden, die ich nicht oder nur ungenau kenne, begehe ich einen Vertrauensbruch.

Diese Gestalt des engagierten Intellektuellen, wie sie in Frankreich mit der Dreyfus-Affäre hervorgetreten ist, ist eine Figur, die Ihnen mißfällt?

Im 19.Jahrhundert lebten manche Intellektuellen noch im Banne einer Tradition, die auf Voltaire zurückging. Ein Victor Hugo konnte sich noch für fähig halten, alle Probelme seiner Zeit zu beurteilen. Ich halte das nicht mehr für möglich. Die Welt ist zu kompliziert geworden, die Zahl der Variablen, die bei jedem besonderen Fall berücksichtigt werden müssen, ist ungeheuer groß. Außer wenn man sich entschließt, sich auf einen bestimmten Typus von Problemen zu spezialisieren, wie Aron, der sich auf die Erfassung der zeitgenössischen Gesellschaft eingeschworen hatte. Das ist eine legitime Parteinahme, doch man kann nicht gleichzeitig das tun, was er, und das, was ich getan habe. Man muß wählen.

Sie interessieren sich für Politik? Sie lesen die Zeitungen, verfolgen das Fernsehen?

Das Fernsehen nur wenig. Wann sollte ich denn sonst lesen? Im übrigen, ja, ich versuche, was die Politik betrifft, die Kenntnisse eines mündigen Bürgers zu gewinnen. Ich lese zwei Tageszeitungen und drei Wochenzeitschriften.

Ein Essayist hat Sie kürzlich in bezug auf diese Frage recht heftig angegriffen. Er zitiert Ihre Weigerung, Stellung zum Problem Neu-Kaledonien zu beziehen, weil Sie nie dort gewesen seien, und hält Ihnen Zolas Handeln in der Dreyfus-Affäre entgegen, wobei er behauptet, daß auch Zola nicht kompetent gewesen sein, was ihn nicht gehindert habe, sich für eine gerechte Sache einzusetzen.

Das verblüfft mich. Zola nicht kompetent, was die Dreyfus -Affäre betrifft? Sobald er auch nur davon unterrichtet war, nahm er auch schon einen der besten Beobachtungsplätze in vorderster Linie ein! Sein gesamtes Werk ist der Beobachtung, der Beschreibung und der Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft gewidmet, der Verteidigung der Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit, der Grenzziehung zwischen den Ehrenmännern und den anderen. Alles prädisponierte Zola dafür, an dieser Affäre leidenschaftlich Anteil zu nehmen; er hätte sie als Romanthema erfinden können.

Was gibt es überdies Gemeinsames zwischen der Verteidigung eines Unschuldigen und der geduldigen und schwierigen Suche nach einer Schlichtung zwischen politischen und ökonomischen Interessen, zwischen Forderungen, von denen sich keine mit einem Federstrich tilgen läßt? Diese Suche muß sich auf eine gründliche Kenntnis der Menschen, des Milieus und der Lösungen stützen, wie sie für vergleichbare Probleme gefunden werden, die sich in derselben Weltgegend stellen.

Man löst solche Probleme nicht durch systematischen Zugriff. Bei einem Thema, das seiner eigenen Disziplin sehr nahe kommt, muß sich der Ethnologe besonders skrupulös zeigen. Ich bin nie in Neu-Kaledonien gewesen, auch nicht auf den anderen Inseln des Südpazifik, und ich vertrete eine Disziplin, welche die direkte Beobachtung zum obersten Credo erhoben hat. Wenn die staatlichen Stellen für das, was ich zu Neu-Kaledonien hätte sagen können, interessiert hätten, dann hätte ich mich gern hinbegeben, unter der Bedingung, einer angemessenen Aufnahme sicher sein zu dürfen. Ich hätte mich dann auch über das unterrichten müssen, was in Samoa, auf den Fidji-Inseln, in Melanesien passiert...

Soll ich Ihnen etwas gestehen? Nach den Traurigen Tropen hatte ich mir bisweilen vorgestellt, daß irgendein Presseorgan mir vorschlagen würde, einmal im großen Stil Reportage zu betreiben. Wäre es dazu gekommen, so hätte ich heute vielleicht genaueren Einblick in einige zeitgenössische Probleme.

Schade, daß Ihnen niemand diesen Vorschlag gemacht hat. Aus dem Französische

von Hans Horst Hensche