■ Die Ausländerpolitik der Union ist noch immer realitätsblind: Flucht vor der Wirklichkeit
Jeder macht sich lächerlich, so gut er kann. Deutschland, so hat die CSU auf ihrem jüngsten Parteitag in Ingolstadt durch Herrn Gauweiler noch einmal verkünden lassen, sei kein Einwanderungsland. Damit das auch so bleibt, solle man doch die CSU wählen. Gleichzeitig macht die CSU in München eine Kampagne gegen eine türkische Familie, die sich letztlich genau um das dreht, was es laut CSU gar nicht gibt: das Einwanderungsland Deutschland.
Seit 30 Jahren lebt die fragliche Familie in Bayern. Jetzt soll sie das Land verlassen, weil ein minderjähriger Sohn als Mitglied einer Straßengang unrühmlich aufgefallen ist. Der Vorfall ist absurd – der Junge, um den es geht, kennt die Türkei nur aus dem Urlaub. Doch die Christsozialen wollen ein Exempel statuieren. In Wahrheit zeigt dieser Fall nur, was passiert, wenn Politik sich dafür entscheidet, die Wirklichkeit zu ignorieren.
Die Bundesrepublik ist, das sieht man an dieser Münchener Familie geradezu exemplarisch, seit den sechziger Jahren ein Einwanderungsland. Egal, ob es einem Stoiber und Gauweiler, Schönbohm oder Kanther nun paßt oder nicht – acht Millionen Nichtdeutsche, fast 10 Prozent der Menschen, die in Deutschland leben, sind eine Tatsache, an der auch die dümmlichste Rhetorik der deutschtümelnden Unionspolitiker nichts ändern wird. Seit Jahren produzieren diese Unionschristen Ausländergesetze, die beharrlich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbeigehen und deshalb genau nicht leisten, was sie angeblich leisten sollen: das Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen gedeihlich zu regeln. Trotz Ausländerverhinderungsgesetzen in allen Varianten hat die Zahl der Nichtdeutschen kontinuierlich zugenommen. Jeder, der zwei und zwei zusammenzählen kann, weiß, das sich diese Entwicklung zukünftig, im Zeitalter der Globalisierung und im Zuge der Europäisierung der alten Nationalstaaten, weiter verstärken wird.
Eine Politik, die sich so offenkundigen Tatsachen schlicht verweigert, sich die Wirklichkeit nach der Ideologie zurechtbiegt, wird letztlich scheitern – das hat auch die Linke schmerzlich lernen müssen. Ein Blick über den Tellerrand nach Österreich und Frankreich, erst recht nach Großbritannien und in die USA zeigt, daß in demokratisch verfaßten Gesellschaften, die eine funktionierende Öffentlichkeit haben, das Potential an Dummheit unter 20 Prozent liegt. Auch in Deutschland ist rund 50 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus der Rassismus nicht mehr mehrheitsfähig.
Allerdings bleibt die Mobilisierung der Dummheit nicht ohne Konsequenzen. Die Mehrheitsverhältnisse kippen nicht, aber das gesellschaftliche Klima wechselt. Offen propagierter Rassismus schürt Angst, Unsicherheit und Gewalt. Die klügeren Leute in der Union wissen, daß ihnen auch das im September bei den Bundestagswahlen nicht mehr den Sieg bringen wird. Jenes bayerische Exempel verbessert noch nicht einmal Wahlchancen – es behindert einzig und allein die Entwicklung der Gesellschaft. Wie sehr dumpfe Deutschtümelei auch das eigene zivilisierte Fortkommen hemmt, ist im Osten der Republik gut zu besichtigen. Es wird Zeit, daß die vernünftigen Unionschristen endlich aus der Deckung kommen und den Mund aufmachen. Jürgen Gottschlich
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