: Die Augenzeugen
Im „Sonderkommando“ in Auschwitz waren Juden gezwungen, am industriellen Massenmord mitzuarbeiten. Seit fünfzehn Jahren protokolliert der israelische Historiker Gideon Greif die Aussagen der wenigen Überlebenden
von PHILIPP GESSLER
taz: Herr Greif, Sie beschäftigen sich vor allem mit dem so genannten Sonderkommando in Auschwitz. Können Sie beschreiben, was diese Kommandos gemacht haben?
Gideon Greif: Das waren jüdische Häftlinge, die gezwungen wurden, in den Todesinstallationen zu arbeiten: Sie mussten die ins KZ ankommenden Juden in die Entkleidungshalle begleiten. Von dort wurden die Juden von den Deutschen in die Gaskammern getrieben. Dann haben die Sonderkommandoleute die Leichen, die sie häufig voneinander trennen mussten, aus den Gaskammern geschleppt, die Haare der Frauen abgeschnitten, die Goldzähne herausgebrochen, die Leichen verbrannt und schließlich die Asche in den Fluss gestreut. Sie waren Mitarbeiter einer Fabrik, die Asche produziert. Man kann sich nichts Grausameres als diese Arbeit vorstellen: sich Tag und Nacht mit Leichen und Asche zu beschäftigen – von deinen Schwestern und Brüdern, von deinem eigenen Volk.
Haben Sonderkommandomänner tatsächlich auch die eigenen Geschwister aus den Gaskammern schleppen müssen?
Manchmal, aber meistens nicht, denn die Familienangehörigen kamen in der Regel mit dem gleichen Transport. Es war jedoch dann möglich, wenn die Verwandten einige Tage später kamen. Dann mussten manche die Leichen ihrer Verwandten verbrennen. Das sind Szenen wie nicht von dieser Welt. Trotzdem mussten die Juden das machen. Sie konnten die Ankommenden nicht warnen – es hätte auch nichts geholfen. Die Wahrheit zu sagen war verboten. Das ist Teil der Tragödie der Sonderkommandos, dass sie einen Aspekt der Lüge mittragen mussten.
Wie wurden die Leute ausgewählt?
Um den Mordprozess am Laufen zu halten, brauchte man immer ein paar hundert Sonderkommandoleute. Wenn ihre Zahl wegen Tötungen zu niedrig wurde, musste man neue rekrutieren. Dann machten die Deutschen einen Sonderappell. Sie wählten nur Männer aus, meist von ankommenden Transporten, und zwar von den Gemeinden, die ausgelöscht werden sollten, da die Sonderkommandoleute die gleiche Sprache sprechen mussten wie die Ankommenden, um ihnen zu erklären, was sie machen sollten. Die Sprache war sehr wichtig.
War die Mitarbeit in den Kommandos eine Möglichkeit, zu überleben?
Im Prinzip nicht: Als so genannte Geheimnisträger waren die Sonderkommandoleute automatisch zum Tode verurteilt. Sie wussten zu viel. Tatsächlich wurden von Zeit zu Zeit große Gruppen von Sonderkommandoleuten getötet, wenn auch nicht alle, denn man brauchte sie ja als Mitarbeiter der Fabrik. Es ist eher ein Zufall oder ein Wunder, dass achtzig oder hundert von ihnen überhaupt überlebt haben.
Waren die Gaskammern selbst in Auschwitz ein Geheimnis?
Prinzipiell schon, aber die Häftlinge im Lager wussten alles, schon nach wenigen Stunden. Aber es sollte ein Geheimnis bleiben. Insgesamt sind seit dem Beginn der so genannten Endlösung der Judenfrage bis zur Evakuierung des Lagers über dreitausend Männer in Sonderkommandos gewesen.
Wie sind die Mitglieder der Kommandos mit ihrem Tun umgegangen – während des Kriegs und danach?
Es ist schwer zu verstehen, wie man eine solche Arbeit überhaupt aushalten konnte. Die Überlebenden sagen, nach 24, 48 Stunden gewöhne man sich an selbst so eine Arbeit. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Die SS-Leute hatten verschiedene Methoden, um sie zu menschlichen Maschinen zu machen, zu „Robotern“, wie sie selbst sagen.
Welche Methoden?
Beispielsweise durch eine Schockbehandlung. Leute, die noch nie Tote gesehen hatten, wurde plötzlich von den SS-Leuten mit fünfhundert, sechshundert Leichen konfrontiert. Man zwang sie auch durch Brutalität: Sie wurden am Anfang verprügelt.
Haben diese Leute Schuldgefühle?
Vielleicht hatten einige Schuldgefühle. Aber sie hatten keinen Grund: Keiner der Juden hat einen anderen getötet. Das haben immer die deutschen „Sanitätskräfte“ gemacht. Zyklon B wurde ohne Ausnahme von zwei SS-Leuten hineingeworfen. Tatsächlich hat aber jeder Schoahüberlebende irgendwelche Schuldgefühle: „Warum habe ich überlebt und nicht mein Bruder, der viel besser, viel talentierter war?“
Haben die überlebenden Sonderkommandoleute nach dem Krieg diese Erinnerungen verdrängt?
Ja, denn das Leben in Israel war schwierig. Man musste sich um eine Wohnung, um die Kinder, um den Lebensunterhalt kümmern. Außerdem war die israelische Gesellschaft in den ersten zwanzig Jahren nach dem Krieg nicht so interessiert, diese Geschichten zu hören; es gab Kriege und Alltagssorgen und -probleme. Auch die Bevölkerung Israels hatte Schuldgefühle, dass sie nicht mehr getan hatte für die Juden in Europa. Das änderte sich erst mit dem Eichmannprozess 1961. Hinzu kommt, dass die Erzählungen dieser Leute so fantastisch klangen: Man konnte nicht glauben, dass sich ein Mensch Tag und Nacht mit Tötung, mit der Asche von Leichen beschäftigt hat.
Haben die Sonderkommandomänner auch ihren Familien nichts erzählt?
Teilweise nicht, weder den Frauen noch den Kindern. Es ist auch eine allgemeine Tendenz der Überlebenden, den Kindern diese Last ersparen zu wollen: „Warum müssen auch sie das erleiden? Wir haben genug erlitten.“ Dabei haben die Kinder der Sonderkommandoleute durchaus gelitten: Es lag bei ihnen zu Hause etwas in der Luft, etwas Drückendes. Es war nicht einfach. Überhaupt leidet die zweite Generation aller Schoahüberlebenden bis heute unter der Schoah, ebenso die dritte. Es gab negative Erfahrungen von Sonderkommandoleuten, die kurz nach dem Krieg versucht haben, etwas zu erzählen. Denn die Reaktion war oft: „Der ist nicht normal. Was erzählt der uns hier?“ Die Verneinung der Erinnerung hat sie verletzt – sie schwiegen.
Wie haben Sie erreicht, dass die Sonderkommandoleute mit Ihnen gesprochen haben?
Keiner war sehr begeistert, dass ich kam. In einigen Fällen habe ich jedoch auch gemerkt, wie die Leute erleichtert waren, dass sie das endlich erzählen und damit das Bild über sich korrigieren konnten. Denn in bestimmten Kreisen hatten die Sonderkommandoleute keinen guten Ruf.
Warum?
Weil es in der Lagerzeit einen großen Neid von Seiten der anderen Häftlinge gab. Die Sonderkommandoleute waren ja gut ernährt. Sie hatten fast nie Hunger gelitten. Sie hatten bessere Kleidung. Man sah sie nur von weitem, wie sie Kontakt mit Deutschen hatten. Dabei hatten sie nur eine Alternative: entweder dort zu arbeiten oder selbst in die Gaskammer zu gehen.
Auch deshalb hatten viele Scheu, mit Ihnen zu reden?
Ja, aber ich habe mir gesagt: Wenn ich sie schon befrage, dann frage ich alles. Denn für sie gibt es in der Geschichtswissenschaft keinen Ersatz. Sie machen die wichtigsten Aussagen zur Schoah, speziell zum Thema „Endlösung der Judenfrage“. Darüber kannten wir vorher nur allgemeine Sachverhalte. Wir wussten, dass die Juden vergast wurden und wo. Aber nicht, wie genau das gemacht wurde. Den ganzen industriellen Prozess können uns nur die Sonderkommandoleute erzählen. Das ist wichtig, denn ein Kennzeichen der Schoah ist der industrielle Tod. Das ist vorher nie in der Geschichte passiert: so zu töten wie in einer Fabrik.
Warum gibt es trotz aller Beweise Leute, die sagen, es habe keine Todesfabriken in Auschwitz gegeben?
Diese Leute haben böse Absichten. Jeder, ohne Ausnahme, weiß, dass es passiert ist. Sonst würde man sich nicht so viel Mühe geben, es zu leugnen. Es ist ein bösartiger Versuch, die Geschichte zu ändern, um diesen Fleck von Deutschlands Gewissen auszulöschen, um die Wahrheit zu verfälschen. Aber das wird nicht gelingen. Die Wahrheit ist zu stark.
Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit diesem schrecklichen Thema. Wie halten Sie das aus?
Das werde ich oft gefragt – ich selbst stelle mir die Frage nie. Für mich ist das normal. Ich sehe meine Arbeit als eine Aufgabe, als eine Mission für die Ehre der Getöteten. Es ist meine persönliche moralische Pflicht. Vielleicht gibt mir dies Kraft und Geduld, das auszuhalten.
Haben Sie Albträume?
Zurzeit nicht. Ich bin sehr überzeugt, dass ich die richtige Sache mache. Ich will das bescheiden ausdrücken, aber keiner außer mir beschäftigt sich mit diesem Thema. Keiner will sich damit beschäftigen: mit Leichen, mit Asche. Das ist sehr grausam. Aber ich stecke so tief in diesem Thema. Ich muss das machen, bis ich zufrieden bin. Bis ich alle 26, 28 noch Überlebenden gefragt habe.
Was sagen Ihre Angehörigen dazu, dass Sie sich nur damit beschäftigen?
Ah, ich habe schon den Ruf, nicht normal zu sein. Aber das ist mir wirklich egal. Ich bin bereit, dieses Etikett zu tragen. Ich bin sogar stolz, das zu machen. Und ich glaube, ich werde am Ende einen wichtigen Beitrag zu der Geschichte leisten, auch wenn es mich persönlich etwas kostet. Jeder muss etwas zahlen im Leben. Ich bezahle auch etwas. Das ist klar.
PHILIPP GESSLER, 33, ist taz-Redakteur in Berlin. Er beschäftigt sich vor allem mit geschichtlichen und religiösen Themen.
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