: Die Anwesenheit der Toten
THAILANDS GEISTER „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“, der Spielfilm von Apichatpong Weerasethakul
VON CRISTINA NORD
Boonmee, Tong und Jen sitzen beim Abendessen auf der Veranda. Um sie herum ist tiefschwarze Nacht; eine Lampe bestrahlt den Tisch, die Schüsseln und die Speisen, die Figuren auf ihren Stühlen und das Astwerk jenseits der hölzernen Balustrade. Boonmee (Thanapat Saisaymar) hat ein Nierenleiden und wird bald sterben; seine Schwester Jen (Jenjira Pongpas) ist aus Bangkok zu Besuch gekommen, um sich zu verabschieden. Tong (Sakda Kaewbuadee) ist ein Freund der Familie. Aus dem Nichts taucht am Tisch eine vierte Figur auf, eine Frau, oder besser: ein halb durchsichtiges Schemen, das auf einem freien Stuhl mehr erscheint denn Platz nimmt. Einen Schnitt später sitzt sie im Off, die Kamera schaut in die staunenden Gesichter von Boonmee, Jen und Tong. Als die Frau, nach einem weiteren Schnitt, wieder onscreen ist, hat sie zwar etwas mehr von der Körperlichkeit, die die anderen Figuren selbstverständlich besitzen. Aber noch immer sieht sie aus, als sei sie nicht ganz von dieser Welt.
Was denn für Dinge?
Und genau das ist der Fall. Huay (Natthakarn Aphaiwonk) starb vor vielen Jahren; Boonmee ist ihr Witwer. Die drei Lebenden gewöhnen sich rasch an die Anwesenheit der Toten. Sie handeln so, als wäre daran nichts Wunderliches. Eine Totale auf eine hügelige Dschungellandschaft und eine nähere Einstellung auf ein Waldstück punktieren die Szene; danach steht die Kamera wieder auf der Veranda; der Tisch liegt nun in ihrem Rücken, vor ihr führt die Treppe herab ins Erdgeschoss. Als reichte ein Geist am Tisch nicht, kommt nun ein mannsgroßer Affe die Treppe hoch; seine Augen leuchten rot, sein Fell hängt in dichten schwarzen Zotteln an ihm herab, zur Begrüßung sagt er, er sei Boonson, Boonmees Sohn. „Es sind viele Dinge dort draußen“, warnt er. „Was denn für Dinge?“, will Boonmee wissen. „Seelen und hungrige Tiere. Sie spüren deine Krankheit.“
Wenn man im Kino etwas akzeptiert, was naturwissenschaftlichen Gesetzen zuwiderläuft, spricht man von „suspension of disbelief“, dem Aussetzen der Ungläubigkeit. Der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul bringt sein Publikum in seinem jüngsten, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ immer wieder dazu, die Ungläubigkeit aufzugeben, und er tut dies auf eine Weise, dass man sie bereitwillig, ja, gierig aufgibt. Zugleich schaut er den Figuren zu, wie sie zögern, bevor sie sich den neuen, übernatürlichen Gegebenheiten dann doch mit großer Selbstverständlichkeit überlassen. Einige Szenen nach der ersten Geistererscheinung zum Beispiel sitzt Huay am Bett Boonmees und führt liebevoll die Dialyse durch, ihre Gestalt hat noch immer etwas leicht Unwirkliches (Weerasethakul drehte die entsprechenden Szenen, indem er einen Spiegel benutzte, die Huay, die im Bild erscheint, ist also eine Reflexion ihrer selbst). Die Eheleute reden über den Tod. „Nachdem ich gestorben bin, wohin soll mein Geist gehen? Wird es mich zu dir führen? Kommt man in den Himmel?“, sorgt sich Boonmee. Huay entgegnet: „Der Himmel ist überschätzt. Da ist nichts. Geister sind nicht mit Orten verknüpft, sondern mit Menschen.“
Man sieht und hört das und denkt in keinem Augenblick: Was ein Unsinn, eine Tote, die mit einem Lebenden spricht. Man sieht und hört es und denkt: Was ein wunderbarer Trost, mit jemandem zu reden, der die Erfahrung zu sterben gemacht hat und der überdies noch eine den Tod überdauernde Beziehung in Aussicht stellt.
Wenn es zu den Fähigkeiten des Kinos gehört, für die Übergangssituationen des Lebens zu wappnen und durch sie hindurchzuführen, dann ist „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ dafür ein besonders schönes Beispiel. Das hat nichts mit Esoterik und nur begrenzt mit fernöstlicher Spiritualität zu tun, vielmehr liegt es daran, dass Weerasethakul sein Publikum an einen Punkt bringt, an dem es spürt und akzeptiert: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es die Schulweisheit träumen lässt. Er hilft zu erkennen, dass der Verstand Grenzen hat. Diese Grenzen müssen kein Grund für Angst und Sorge sein, im Gegenteil. Indem Weerasethakul die Wunder so sanft und selbstverständlich in Szene setzt, versöhnt er für die Dauer seines Filmes mit dem, was an unserem Dasein inkommensurabel bleibt.
„Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ ist der sechste Kinofilm des 1970 geborenen thailändischen Regisseurs; er ist assoziiert mit dem „Primitive Project“, zu dem mehrere Kurzfilme und Videoinstallationen gehören und das 2009 unter anderem im Münchner Haus der Kunst zu sehen war. „Primitive Project“ entstand im Nordosten Thailands, in der Provinz Isan. Es ist eine arme Gegend, weit weg vom Zentrum Bangkok. Die Rothemden, die in diesem Frühjahr gegen die Regierung protestierten, haben dort ihren stärksten Rückhalt. Und es ist eine Gegend, die eine schwierige Geschichte hat, weil sie Schauplatz erbitterter politischer Kämpfe wurde. In Nabua, dem Ort, an dem „Uncle Boonmee …“ gedreht wurde, bekämpften sich von den 1960er bis in die 1980er Jahre Militärs und Kommunisten. Die Bewohner gerieten zwischen die Fronten. Zahlreiche Menschen verschwanden. In den Film fließt das ein, wenn auch in einer verfremdeten Form. Den vielen rotäugigen Affen im Wald wird sicher kein Unrecht getan, wenn man in ihnen Wiedergänger der Verschwundenen erkennt. Was wiederum nichts daran ändert, dass diese Affen normalerweise in populären Comic-Heften zu Hause sind. Auch nichts daran, dass Boonsons schwarze, zottelige Gestalt nicht denkbar wäre ohne den Glauben an Seelenwanderung oder die animistische Tradition, die im Nordosten Thailands besonders ausgeprägt ist.
Konstante Wechsel
Politik, Comic und Animismus stehen sich in „Uncle Boonmee“ nicht im Weg. Weerasethakuls Oeuvre ist durchlässig und offen, es kennt keine Abgrenzungen und fixen Identitäten, es wandert von einer Seinsform in die andere, so wie Boonmee in einer großartigen Sequenz in eine Höhle herabsteigt und dort vom Leben in den Tod gleitet. Motive aus der Videoinstallation lappen in den Film hinein, etwa die Aufnahme eines Feldes, in dem große LED-Leuchtkörper stehen.
Der von Sakda Kaewbuadee gespielte Tong trat bereits in „Tropical Malady“ (2004) auf, als junger Landbursche, der sich in einen Soldaten verliebt, und als shape shifter, der sich nachts in einen Tiger verwandelt. In „Syndromes and a Century“ (2006) war Tong ein Mönch, der gerne Gitarre spielte (was die thailändischen Zensoren erregte); in „Uncle Boonmee …“ spielt er den jungen Mann, der Boonmee beim Sterben begleitet, und im letzten Akt ist er der Mönch, der Jen in einem Hotelzimmer besucht, weil er sich im Tempel nicht wohlfühlt – eine mit sich selbst nicht identische Filmfigur.
Der Film selbst ist in einem konstanten Wechsel begriffen. Er teilt sich in sechs Abschnitte; jeweils prägen sie einen unterschiedlichen Stil aus. Der vierte etwa beruft sich auf thailändische Märchen- und Kostümfilme, indem er eine reich geschmückte Prinzessin mit vernarbtem Gesicht in den Wald schickt, wo sie an einem Teich um ihre vergangene Schönheit trauert. Ein Wels verwickelt sie in ein Gespräch, während sie ihr Spiegelbild im Wasser betrachtet. Wenig später geht sie in vollem Ornat ins Wasser, wirft ihren Schmuck ab, das Wasser sprudelt und wirbelt, ein Schwarm Fische wallt es zusätzlich auf. Der Wels zappelt zwischen ihren Beinen – in einer großartigen Kategorienvermengung zwischen Mensch und Tier.
■ „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“. Regie: Apichatpong Weerasethakul. Mit Thanapat Saisaymar, Jenjira Pongpas u. a. Thailand 2010, 114 Min.