■ Die Antwort der Kohl-Regierung auf die Arbeitslosigkeit heißt: Repression gegen die Arbeitslosen. Und die Opposition schweigt: Friß oder stirb
Immer mehr Menschen trauen der Demokratie immer weniger zu, mit der wachsenden Arbeitslosigkeit fertig zu werden. Politikverdruß droht in Demokratieverdruß umzuschlagen. Der Neoliberalismus scheint den demokratischen Widerstandskräften das Selbstvertrauen genommen zu haben. „Durch das Freisein, in dem die Gabe der Freiheit, des Anfangenkönnens, zu einer greifbaren weltlichen Realität wird“, schreibt Hannah Arendt 1958, „entsteht zusammen mit den Geschichten, die das Handeln erzeugt, der eigentliche Raum des Politischen.“
Davon ist gegenwärtig in dieser Republik nichts zu spüren. Kein Hauch einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung – keine öffentliche Empörung über die Hinterlassenschaft der Ära Kohl, kein politisches Signal an die Verzagten, Deprimierten, die Armen und Arbeitslosen. Keine verfassungspatriotische Empörung über die konservative Rückkehr zur vordemokratischen Klassengesellschaft.
Weil es dieser Republik an Verfassungspatriotismus mangelt, läßt sich das gesellschaftspolitische Megathema „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“ für eine Re- feudalisierung der modernen Gesellschaft mißbrauchen. Die Bürgerrechte der sozialen Demokratie gelten für Arbeitslose zunehmend nicht mehr. Der Marsch ins moderne Helotentum wird im Paragraphendschungel des Sozialhilferechts (Bundessozialhilfegesetz) und Arbeitsförderungsrecht (Sozialgesetzbuch III) mit stiller bürokratischer Libido vorangebracht.
Wer Sozialhilfe beziehen will, soll zur gemeinnützigen Arbeit zwangsverpflichtet werden, so die Bundesregierung. Jedem Jugendlichen solle ein Ausbildungsplatz garantiert werden, aber wer diesen nicht annehme, soll seinen Anspruch auf Sozialhilfe verlieren, meint sogar Rudolf Scharping. Nobilitiert wird dieses Politikkonzept des Zwangs zur Arbeit durch den Hinweis auf Tony Blair, der diese „Workforce-Politik“ als neuen Gesellschaftsvertrag verkauft.
Wer arbeitslos ist, muß jetzt jede Arbeit annehmen – seine erworbene berufliche Qualifikation ist jetzt ohne rechtliche Bedeutung. Vorbei die demokratischen Zeiten, als das 1969 aus der Taufe gehobene Arbeitsförderungsgesetz mit den Stimmen aller Bundestagsparteien als Ziel bestimmte, nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch unterwertige Beschäftigung zu vermeiden. Die ökonomische Vernunft dahinter war plausibel: Das Humankapital sollte gestärkt werden im Hochlohnland Bundesrepublik.
Jetzt – seit 1.1.1998 – sieht die Arbeitsförderung sogenannte Trainingsmaßnahmen für Arbeitslose vor. Ein durchaus vernünftiger arbeitsmarktpolitischer Ansatz wird pervertiert, um der politisch gewollten Härteattitüde gegenüber Arbeitslosen zu genügen. Jetzt können auch hochqualifizierte Arbeitslose wie beispielsweise in Donau-Eschingen zum Einsatz als Toilettenreinigungskräfte gezwungen werden. Wer dagegen zu protestieren wagt, dem droht man, die Arbeitslosenhilfe zu streichen. Das passende Menschenbild hatte Néstle-Konzernchef Helmut Maucher entworfen: Die „Überflüssigen“ der Arbeitswelt bezeichnet er als „Wohlstandsmüll“.
Das moralische Motto des modernen Helotentums – „Friß oder stirb“ – wird jedoch mit den Weihen der politischen Philosophie des Kommunitarismus ausgestattet: Wer Rechte in der Gemeinschaft beansprucht, hat auch Pflichten zu erfüllen. Artikel 12 (2) Grundgesetz, wo zu lesen ist, daß alle Deutschen das Recht hätten, den Beruf frei zu wählen und niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden dürfe, wird ignoriert.
Der Bundesverband der Arbeitgeberverbände (BDA) und die „Zukunftskommission“ der Bundesländer Bayern und Sachsen (unter Mithilfe des Soziologen Ulrich Beck) fordern, daß Beschäftigungsbedingungen und niedrige Löhne zugelassen werden, die bisher als unzumutbar galten. Gefordert werden noch rigidere Arbeitsverpflichtungen von Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfängern. Die Sozialhilfe soll um 20 bis 30 Prozent gekürzt werden, sieht der „Kombi-Lohn-Vorschlag“ des BDA vor. Als unvermeidlich soll gelten, daß künftig noch größere Teile der Bevölkerung in Armut mit prekären Arbeitsplätzen und in Ausgrenzung leben müssen.
Zudem würde die Etablierung eines großen Niedriglohnsektors auch Auswirkungen für die Otto- normalverdiener haben. Die Folge: Die Spielräume für die Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung verringern sich, weil die Einkommensbasis sinkt. Doch eine Opposition, die souverän den Blödsinn solcher beschäftigungspolitischen Strategien aufdeckt, ist nicht in Sicht.
Die Alternative zum Kurs der politischen Klasse, Zwangsarbeit zu Billiglöhnen flächendeckend zu etablieren, kann aber nur Umverteilung von qualifizierter Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung und Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in öffentlicher Verantwortung sein. Ohne einen gesellschaftlichen Aufbruch, aus verfassungspatriotischem Geist, wird dies nicht gelingen.
Was bedeutet es, wenn wir die verfassungspatriotische Auslegung des Grundgesetzes im Lichte aktueller gesellschaftlicher Probleme wie der Massenarbeitslosigkeit betreiben? Zum Beispiel des Artikel 14 (2) Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Für die Konstellation, daß an den Börsen die Aktienkurse gerade in den Momenten besonders steigen, in denen das Management neue Entlassungen ankündigt? Etwa dies, daß die zunehmenden Finanzierungsprobleme der deutschen Sozialversicherungssysteme als Folge der Massenarbeitslosigkeit von den Unternehmen, die ihre immer höheren Renditen mit immer weniger Personal glauben erwirtschaften, eine Wertschöpfungsabgabe erfordern. Fruchtbar könnte die Interpretation des Artikels „Eigentum verpflichtet“ im Lichte der Massenarbeitslosigkeit für ein neues Arbeitszeitgesetz sein. Auch wenn das Grundgesetz das Recht auf Arbeit nicht als individuell einklagbares Recht vorsieht, könnte der Verfassungspassus Artikel 14 Grundgesetz durchaus eine beschäftigungspolitische Interpretation erhalten. Denn die exzessive Überstundenpraxis ist angesichts Millionen Arbeitsuchender nicht mehr mit der Freiheit des Unternehmens legitimierbar.
Zur Alternative der Refeudalisierung der Gesellschaft gehört aber nicht nur die Wiederherstellung der Bürgerrechte für Arbeitslose, sondern auch die Etablierung der Rechte auf individuelle Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen. Ingo Zander
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen