Die Angst vor dem Joint: Schmeißt die Scheiße weg!
In Leipzig kursiert mit Blei versetztes Marihuana, das gab es noch nirgendwo. Bisherige Bilanz: 130 Vergiftungen. Die Polizei steht vor einem Rätsel.
Dann sah er die schwarzgrauen Späne, ganz fein waren die, dort unten in seiner Vorratstüte. Das Gras darin hatte er fast weggekifft. Erst dann fiel es ihm auf. Wovor ihn eine Freundin gerade per SMS gewarnt hatte. Was noch nie dem Marihuana beigemischt wurde, nicht in seiner Heimatstadt Leipzig, nicht europaweit.
Jetzt sah er es selbst. Michael Ahlers * wusste sofort: Es hatte ihn erwischt.
Blei im Gras.
Im Marihuana sind schon viele bizarre Streckmittel aufgetaucht. Talkum, Zucker, Glas, Sand, Flüssigplastik. Aber das noch nie. Nicht Blei. Keiner weiß, woher das Gras kommt.
Es ist der blanke Kifferhorror.
Ahlers hatte das alles zuerst nicht einmal mitbekommen. Dass es Warnungen von der Polizei und der Stadt Leipzig gab, die erste Anfang November, und eine Hotline. Dass man sich beim Gesundheitsamt testen lassen kann, anonym, für 22 Euro. Dass auch Apotheken Grasproben ohne Namen annehmen und zur Analyse zu den Rheinischen Kliniken Viersen schicken.
CHRONOLOGIE
August: Eine junge Leipzigerin kommt mit schwerer Bleivergiftung ins Krankenhaus. Ursache: unbekannt. Dann erkrankt ein Paar aus dem südöstlichen Leipziger Umland. Das Gesundheitsamt findet heraus: Es kifft regelmäßig. Ihr Gras wird getestet: Blei.
7. November: Polizei und Stadt Leipzig warnen vor Blei im Gras. Betroffen: 19 Personen.
12. Dezember: Bis dahin 351 Blutentnahmen beim Amt, 278 Befunde, davon 133 mit teils stark erhöhten Bleiwerten.
VERGIFTUNG
Oft zuerst kaum Symptome.
Akut: u. a. Übelkeit, hoher Blutdruck, Bauchkrämpfe (Bleikoliken), psychische Störungen, Lähmungen, toxische Hirnschäden (Bleienzephalopathie).
Chronisch: u. a. Blutarmut (Bleianämie), Bleisaum am Zahnfleisch, Hirn- (Bleidemenz), Nerven-, Nierenschäden. Bei hohen Dosen Bleienzephalopathie mit Koma, im Extremfall: Tod.
Bis er die SMS las.
"Manchmal denkst du doch: Das ist alles Paranoia", sagt er.
Michael Ahlers kifft seit acht Jahren, täglich raucht er ein bis zwei Joints, auch Bong-Pfeife. Das beruhigt ihn, es bringt ihn runter. Der 25-jährige Ingenieur ist ein hektischer Typ, kein wonniger Wegnebler. Auch hilft ihm Gras, Probleme zu verdrängen, er ist gut darin.
Blei aber bleibt.
In Ahlers Körper treiben 750 Mikrogramm Blei pro Liter Blut. Das Dreifache jener Menge, ab der man zum Arzt muss: 250 Mikrogramm für Männer, sogar nur 150 bei Frauen im gebärfähigen Alter. Im Krankenhaus liegen Leute, die haben weit über 2.000 Mikrogramm. Ein Grasraucher erzählt von einem Bekannten, auch in Behandlung, heftig vergiftet. Dem habe ein Arzt eine Kamera in den Mund gehalten. Er wollte seinen Bleisaum am Zahnfleisch fotografieren. Für Lehrbücher.
In Leipzig habe es seit 15 Jahren keine Bleivergiftungen gegeben, sagt Gesundheitsamtsleiter Bodo Gronemann. "Wir haben bei den ersten Fällen zuerst keinen Grund dafür gefunden." Alte Wasserrohre aus Blei sind größtenteils ausgetauscht. Bleifarben oder Metallgeschirr kamen auch nicht in Frage. Bis es den Ärzten aufging: Alle Kranken rauchen Gras.
Es hört nicht auf seitdem. Ständig kommen alarmierte User zum Test ins Gesundheitsamt, manchmal 20 pro Tag. Bei mehr als 130 Menschen aus dem Raum Leipzig wurden teils schwerste Vergiftungen diagnostiziert. Das ist fast die Hälfte aller bisher analysierten Blutproben. Kürzlich beriet Gronemann mit Kollegen aus deutschen Großstädten: "Die haben so etwas auch noch nie erlebt."
An einem Mittwoch bekam Ahlers sein Testergebnis. Am Wochenende darauf kaufte er sich wieder Gras, mit schlechtem Gewissen zwar, aber er rauchte es trotzdem. "Für mich ist das alles noch sehr weit weg."
Er windet sich: "Ich glaube, erst wenn ich kurz vorm Krepieren sein sollte, werde ich das wahrnehmen."
Jetzt braucht Ahlers starke Medikamente, vielleicht jahrelang. So eine Bleimenge verschwindet nicht einfach, sie bleibt in den Organen, vor allem in den Knochen. Die geben es permanent wieder ins Blut ab, zehn Jahre kann das so gehen, eine ständige Vergiftung. Die Tabletten sollen teuer sein, hat er gehört. Teilweise Reimporte. Mit der Krankenkasse muss er noch reden. Seine Ärztin sagte: "Sie haben ja das Geld zum Kiffen. Also werden Sie auch Geld für das Medikament haben."
Bisher hat die Polizei bei zwei Proben elementares Blei im Gras gefunden. Der Leipziger Drogenaufklärungsverein Drug Scouts spricht auch von Bleisulfid. Dies habe ein Labor für einen User analysiert. 80 Milligramm pro Gramm Marihuana.
Die Drug Scouts haben ihre Räume im Erdgeschoss eines schönen Altbaus im Leipziger Zentrum Nord. Im sofagemütlichen Raum hinter der Tür liegen Informationen zu allen möglichen Drogen aus. Nebenan ist der Konferenzraum nüchterner. Ein Tisch, Stühle, eine Tafel.
Dort sitzt Drug-Scout-Mitarbeiter Marko Riegel, 30 Jahre alt, kurze Haare, scharfer Blick. Was er erzählt, erschüttert seit Wochen die Szene.
Vermutlich sei das erste so gestreckte Gras schon im Frühjahr in Leipzig aufgetaucht. Das alles sieht nicht nach einem Versehen aus. Oder nach achtlos drauflos mixenden Amateuren. Da muss jemand die Pflanzen während der Wachstumsphase ständig bestreut haben, das Bleisulfid steckt tief in den harzigen Blüten.
Man trägt besser Schutzkleidung dafür und eine Atemmaske. Bleisulfid ist schon in winzigen Mengen hochgiftig.
Wer auch immer so einen Aufwand betreibt, hat keine Skrupel. Kiffer müssen ihm egal sein. Schlimmer noch: Er könnte der Szene richtig schaden wollen.
Oder beides. Perfider Profit. "Vorher herrschte in der Szene ein Vertrauensverhältnis", sagt Riegel: "Jetzt ist alles kaputt. Es sollen schon Dealer verprügelt worden sein. Viele von denen kiffen doch selbst."
Mit bloßem Auge ist das Blei im Gras kaum auszumachen. Dunkle Punkte unter dem Mikroskop, mehr nicht. Es gibt den sogenannten Bleistifttest. Man reibt das Gras auf Papier, dabei können Spuren bleiben, dann ist Blei drin. Oder man schwemmt es in Spülmittel auf, dann setzt sich Bleisulfid unten ab.
Sicher ist das aber nicht.
Sicher ist eigentlich gar nichts.
Marek Ebelings Arbeitsplatz ist ein trefflicher Ort für Gerüchte: sein Headshop Kif-Kif. Mitbetreiber Mayer ist ein gemütvoller Schwabe (40), Ebeling (39) selbst ein hibbeliger Badener. Die allerersten Gerüchte vom verseuchten Gras mochte er gar nicht glauben. Ebeling springt vom Stuhl auf, tippt mit seinem Finger an die Stirn, halb amüsiert, halb genervt: "Hier erzählen die Leute so viel Mist, da musst du erst mal sondieren."
Außen ist das Kif-Kif kunstvoll mit dichten Haschpflanzen bemalt.
Die Holzregale sind voller Wasserpfeifen, von den Deckenbalken baumeln indonesische Lampenschirme, Heimgärtnerbedarf wird auch feilgeboten.
Es sind nur zwei Minuten bis zum Hauptbahnhof. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurde früher ausgiebig gedealt. Dann hängte die Deutsche Bahn Kameras auf. Seitdem gehen die Drogenhändler etwas beiseite.
An der Scheibe des Kif-Kif steht: "Dealer, verpisst euch." Ein Plakat rät: "Lieber bekifft ficken als besoffen fahren". Einige Meter weiter hängt ein pinkfarbenes Sexshop-Schild.
Die öde Gasse zum Bahnhof hat den Charme eines eingetrockneten Hundehaufens: stinkt nicht mehr, sieht aber immer noch übel aus. Das Kif-Kif bringt seit zehn Jahren wenigstens mehr Farbe hinein. Grün zum Beispiel. Anfangs ging es draußen rustikaler zu. Ebeling und Mayer konnten von ihrem Büro aus Sondereinsatzkommandos beim Hausbesuch gegenüber betrachten. Im Zigarettenautomaten einer Eckkneipe fand sich schon mal Heroin.
In dieser Straße ist es schwer, noch überrascht zu werden.
Manche Kiffer, glaubt Ebeling, würden das verseuchte Kraut jetzt trotzdem weiterrauchen, bezahlt ist bezahlt. "Die denken keine fünf Meter weit, sag ich dir." Andere sollen es panisch abgefackelt haben.
Man hört ja viel. Man weiß wenig. Blei soll in verschiedenen Grassorten gefunden worden sein. "Das ist halt mysteriös", grübelt Ebeling, lässt sich wieder auf den Stuhl fallen, starrt zur Decke. "Das ist echt mysteriös."
So schießen in Leipzig die Verschwörungstheorien nur so ins Kraut. "Manche sagen, es waren die Russen", winkt Ebeling ab, "oder die Bullen."
Die Polizei ist aber ähnlich ratlos. Der Leiter des Rauschgiftdezernats, Rainer Bock (57), sitzt in einem Büro unter dem Dach.
Auf dem Gang riecht es aromatisch. Wahrscheinlich wurde gerade beschlagnahmtes Marihuana eingelagert. Vergangenes Jahr kassierte die Polizei in Leipzig mehr als 45 Kilogramm ein. Auf Bocks Schrank sieht es auch nach Erfolgen aus. Pokale, Urkunden, Medaillen. Eine goldene stammt von der Polizei-Landesmeisterschaft 2006 im Volleyball, auf dem Mannschaftsfoto ist ein gut gelaunter Rainer Bock zu sehen.
Beim Blei im Gras sind bisher nicht einmal Trostpreise drin.
Dabei hat Bock drei Leute nur dafür abgestellt. Mittlerweile bekommt er auch Anfragen aus anderen Bundesländern rein.
Einzelfälle.
Bislang scheinen aber alle auf Gras aus dem Raum Leipzig zurückzuführen sein.
Derzeit lässt er im kriminaltechnischen Labor des Landeskriminalamtes in Dresden alles sichergestellte Gras der vergangenen Monate untersuchen. Die Polizei hofft auch auf Betroffene. Die sollen ihren verseuchten Stoff bei ihr abliefern.
"Wir wollen keine Konsumentenjagd, wir wollen die Hintermänner", beteuert Bock. Seine Kollegen müssten eine Anzeige schreiben.
Die Staatsanwaltschaft, die wegen gefährlicher Körperverletzung gegen unbekannt ermittelt, hat nachsichtige Strafverfolgung für aussagewillige Betroffene nicht ausgeschlossen. Bisher kam kein einziger.
Stefan Schmidt * geht lieber zu einem Freund. Der arbeitet in einem Labor und checkt sein Gras durch. Es ist aber zu spät.
Schmidt hat 565 Mikrogramm Blei im Blut und Durchfall im Darm. Der Bekannte, der ihm den Stoff gab, ist selbst schwer betroffen, 620 Mikrogramm. Er rief ihn sofort an: "Schmeiß die Scheiße weg!"
Schmidt, 22-jähriger Einzelhändler, hatte sich noch gewundert, als er in die Tüte schaute. Wenig Gras für viel Geld, fand er. Na wenn schon. Dann drehte er einen Joint.
Als Schmidt aber seine Tupperwarendose ausschüttete, sah auch er die Bleispäne. Da fiel ihm seine Schulzeit ein. Die 11. Klasse. Er hatte einmal einen Vortrag ausgearbeitet. Ein paar beunruhigende Dinge wusste er daraus noch.
Das Thema seines Vortrags war: Schwermetalle.
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