„Die Ästhetik des Widerstands“ von Weiss: Gregor Gog muss mit
An Peter Weiss' Hauptwerk fasziniert dessen Empathie für Vergessene der linken Geschichte. Es stellt Kunst im Spiegel gesellschaftlicher Kämpfe dar.
Verwandtschaften kann man sich nicht aussuchen, Ersatzfamilien aber schon. Sie gründen sich auch abseits von zu Hause und Mainstream. Sind nachhaltig günstig für die Entstehung von eigenständigem Denken, ermöglichen kollektive Kunst oder einfach den schnöde geäußerten Widerspruch in Debatten.
Diese einstmals linken Errungenschaften – gegenwärtig werden sie staatlich gefördert – vor 90 Jahren in der wackligen Demokratie der Weimarer Republik mussten sie erst erkämpft werden. Diese Auseinandersetzungen schwingen in Peter Weiss’ „Die Ästhetik des Widerstands“ stets mit.
Was könnte Weiss mit dem Buchtitel gemeint haben: Humanismus als literarische Form? Widerständige Schönheit? Ein Fortleben von Utopien im Widerstand gegen das Reaktionäre? Vielleicht beschreibt er auch das, was Walter Benjamin in seinem Vortrag „Der Autor als Produzent“ (1934) „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ genannt hat: Die Abbildung des eigenen Alltags, die eine Weiterbildung des Autors mit einschließt, sodass er nach Benjamin zum „operierenden Schriftsteller“ wird.
Weiss’ namenloser Ich-Erzähler bezeichnet sich nämlich als „Autodidakt“, der, obwohl für „die Nichtigkeit bestimmt“ durch Lektüre eine „kulturelle Grundlage“ schafft. „Unter unsäglicher Anstrengung“, wie Weiss klassenkämpferisch den „Schritt aus der Versklavung ins wissenschaftliche Zeitalter“ beschreibt.
An „Die Ästhetik des Widerstands“ fasziniert auch, wie sie Kunst und Kultur im Spiegel der sozialen und gesellschaftlichen Kämpfe nach 1918 darstellt und diese in den Niederlagen der Arbeiterbewegung und dem Scheitern der Linken unter der Knute des Faschismus beschreibt.
Gegen das Vergessen
Was der Literaturkritiker Heinrich Vormweg als „Wunsch-Autobiografie“ von Weiss bezeichnete, die fiktionale Verbindung seiner Protagonisten mit real existierenden Figuren der Zeitgeschichte von Bertolt Brecht über die KPD-Funktionärin Charlotte Bischoff bis zur Kriegsreporterin Lis Lindbaek, entreißt eine gewalttätige Geschichte dem Vergessen. Und wenn sie noch so blutrünstig verlief, in den 1.200 Seiten bewahrt ihr Weiss ein notwendiges Andenken.
Besonders ergreifend liest sich eine Stelle, die im schwedischen Exil angesiedelt ist: Auf der Flucht vor den anrückenden Nazis gilt es, den Handapparat von Brecht zu retten: Was kommt mit? Diderot, Shakespeare, Rilke und andere Klassiker der Weltliteratur werden natürlich eingepackt. Auch die Encyclopedia Britannica müsse mit, verlangt Brecht. Dem Ich-Erzähler fällt dagegen das kleine Buch „Vorspiel zu einer Philosophie der Landstraße“ von Gregor Gog in die Hände, für ihn Paradebeispiel eines „Vereinzelten, Nicht-Zuzuordnenden“.
Gog (1891–1945), ein Matrose und Gärtner, der an der Münchner Räterevolution teilnahm, ist ein eigenständig denkender Linker gewesen. Er förderte etwa Menschen aus dem „Vagabundenmilieu“ in seiner Zeitung Der Kunde. Vor den Nazis musste er fliehen. Gog und seine Angehörigen kamen im Exil der stalinistischen Sowjetunion auf elende Weise ums Leben. Heute trägt wenigstens die Bibliothek des Berliner Obdachlosen-Magazins Motz seinen Namen.
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