: Die 68er, in Musik gefasst
Die Postmoderne vor ihrer Erfindung: Das Staatsorchester Hamburg spielt mit Luciano Berios Sinfonia ein schillerndes Stück Avantgarde, das keine Scheu vor der Unterhaltungsbranche kennt
von Rainald Hanke
Erst war Gustav Mahlers 2. Sinfonie dran, am kommenden Wochenende nun begeht das Hamburger Staatsorchester seinen 175. Geburtstag mit Luciano Berios „Sinfonia“, einem Schlüsselwerk der Neuen Musik. Der dritte Satz von Mahlers 2. Sinfonie spielt darin hörbar eine große Rolle. Beide Stücke von dem Publikum in aufeinander folgenden Konzerten anzubieten, ist eine einleuchtende, bisher kaum je umgesetzte Idee.
Ein Grund für die vergleichsweise große Popularität von Berios Sinfonia mag darin liegen, dass er eines der seinerzeit bekanntesten Gesangsensembles der Unterhaltungsbranche darin integrierte, die Swingle Singers. Und das in Zeiten, als man in weiten Kreisen der Neuen Musik gerne im eigenen Klang gewordenen Elfenbeinturm herumturnte. Jede kompositorische Berührung mit dem Musikalltag des Normalbürgers galt als verpönt, der Darmstädter Schule sei zweifelhafter Dank.
Und dann so etwas: einer der ihren bricht aus diesem Denkschema aus und hat auch noch Erfolg damit. Die Uraufführung im Jahre 1969 zog lange Diskussionen nach sich. In den folgenden Jahren wurde das Stück in fast allen Musikmetropolen aufgeführt. Seine durchschlagende Wirkung liegt im dritten Satz. Er ist der Dreh- und Angelpunkt und versteht sich als Hommage an Gustav Mahler, dessen 2. Sinfonie wie ein unterirdischer Fluss durch das Stück fließt. Immer wieder kommt er für mehr oder weniger kurze Momente an die Oberfläche, aber zumeist fließt er im Halbverborgenen.
Im Vordergrund hören wir eine Collage aus Klängen der Musikgeschichte von Bach bis Boulez, von Beethoven bis Berg. Dazu Textfetzen von Joyce und Politparolen aus den Pariser Mai-Unruhen. Die Zitate werden eingebettet in den musikalischen Erzählfluss Mahlers. Sie tauchen blitzartig auf und verschwinden wieder, die Höreindrücke überschlagen sich.
So entsteht eine ganz eigene Musiksprache, wie sie zeitgleich lediglich bei Bernd Alois Zimmermann einen Geistesverwandten findet. Aber Berios Musik wirkt weniger konstruiert und ist weitaus sinnlicher, ja überrumpelnder in ihrer Wirkung als die des Deutschen: ein Meisterwerk eben, das erste der Postmoderne, noch bevor dieser Ausdruck überhaupt erfunden wurde. Zu hören am Sonntag und Montag in der Musikhalle, es dirigiert Ingo Metzmacher.
29.2., 11 Uhr; 1.3., 20 Uhr, Musikhalle