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Archiv-Artikel

Dichter in Dünen ll Unendliches Tirol

Der österreichische Schriftsteller Franzobel lebt und arbeitet im Rahmen eines Literaturstipendiums für einige Wochen auf der Insel Sylt. Für die taz nord schreibt er regelmäßig auf, was ihm als Inselschreiber widerfährt

Draußen peitscht der Regen. Windböen schieben die schweren Strandkörbe eines Cafes über das Pflaster als wären sie Autodromwägelchen. Am schwarzen Himmel zucken Blitze; Donnergrollen. Vor meinem Fenster laufen Menschen in Regenpelerinen zu Unterschlüpfen. Bei so einem Sauwetter ist an einen Spaziergang nicht zu denken. Wie kommt eigentlich der Name Sauwetter zustande? Weil man da keine Sau hinausjagt? Weil das Wetter eine Sau ist, es junge Ferkel regnet?

Nur eine halbe Stunde später glänzt das Dünengras schon wieder seidig wie Haar in einer Shampoowerbung. Aufgerissen ist der Himmel, die Sonne gießt sich aus wie warme Vanillesoße über rote Grütze. Ich schnappe meinen Sohn, der lieber fernsehen möchte, und schlendere mit ihm zum Wattenmeer. Ganz verstanden habe ich die Faszination an dieser stinkenden, morastigen Brühe noch nicht. Mich erinnert das vor allem an eine Mischung aus keltischer Tötungsart und den Rückstand einer Kläranlage, aber ich bin auch einer von nur fünf Menschen dieser Erde, der den kleinen Prinzen nicht mag und daher dem Bruder von Ivan Rebroff, der den Saint Exupery angeblich abgeschossen hat, nicht böse ist. Jedenfalls kann man am Ufer dieses Wattenmeers nicht nur Strandläufer, Schafe und tief fliegende Schwalben sehen. Wenn man einen flachen Stein hebt, erlebt man etwas Einzigartiges, ein Gewurrle und Gewusel, wie man es sonst nur vom Mehl kennt, wenn die Würmer der Lebensmittelmotte es erobert haben. Bis zu hundert Krebse tummeln sich da unter einem Stein. So einen hebe ich also hoch, um meinen Sohn zu überraschen. Der ist derart perplex, dass er den kleinen Ziegelbrocken, den er zufällig in der Hand hält, nach den Krebsen wirft.

Ein Tier wird unglücklich getroffen, sein Panzer zerschlagen. Es fehlt ein Teil seines Gesichtes, auch ein Auge ist wie weggewischt. Entgeistert greift das Tier mit seinen Scheren immer wieder in das Loch, das ihm der Stein geschlagen hat, dorthin, wo eben noch das Auge war, jetzt Hirn austritt, kann nicht verstehen, was da geschehen ist. Mein Sohn bekommt einen Heulkrampf, plärrt „das wollte ich nicht, wirklich nicht, der arme Krebs, das wollt ich nicht“ und mir bleibt nichts übrig, als das Tier von seinem Leiden zu erlösen – ein Euphemismus fürs Erschlagen.

Abends, mittlerweile nieselt es schon wieder, gehen wir in eine Kneipe, die den verführerischen Namen Tiroler Stuben trägt. Drei hochgezogenen österreichischen Fahnen hatten uns angelockt. Tirol war bekannt für seine Berge, für fesche Skilehrer mit kehligem Dialekt, tief verwurzelten Katholizismus und Autobahnblockaden – von alldem hatte Sylt, diese frühere Walfängerinsel, so gut wie nichts. Oder waren vielleicht die Menschen da wie dort besonders dickköpfig? Von den Touristen lebte man hie wie da.

Aber eine Tiroler Stuben auf Sylt? Ich versuche, mir eine Sylter Strandskihütte im Zillertal vorzustellen. Könnte das gut gehen? Und diese Tiroler Stuben in Rantum? Draußen riecht es nach abgestandenem Frittierfett. Plastikziegen grasen auf dem Dach. Vielleicht wächst da sogar ein Enzian? Drinnen weht eine Tiroler Fahne, darunter eine Schnapsbar, getrocknete Maiskolben, ein Schubkarren mit Stroh, Hirschgeweihe. Die Speisekarte verspricht Tafelspitz, Tiroler Speckplatte und Reibekuchen mit Apfelmus. Schnitzel, Kasspatzeln (mit l wie Ellenbogen) und Matjes nach Hausfrauenart. Deutsches Bier und Wein aus der Wachau. Seltsame Mischung.

Es braucht schon etwas Mut, sich darauf einzulassen. Aber erkennt man das Eigene nicht meist erst in der Fremde? Und auch das Fremde wird über das Bekannte wieder vertraut. Aber wenn sich beide mischen, eine Verpflanzung stattfindet? Wird man dann gepflanzt oder, wie man in Deutschland sagt, veräppelt? Schlägt da etwas Wurzeln oder vegetiert es bloß? Im Garten stehen Strandkörbe, ihre Bezüge sind nicht blau-weiß wie sonst auf Sylt, sondern rot-weiß-rot. Hat man eine Bierzeltplane geopfert? Die Kellner tragen Lederhosen und einer spricht tatsächlich ein österreichisches Idiom.

Ich bestelle ein Krabbenbrot und denke an die zwei verschiedenen Arten der Unendlichkeit, die eine fängt wo an, die andere nicht. Vielleicht fängt auch Tirol nirgendwo an und endet nie – genau wie Sylt. Vielleicht aber, denke ich, als das Essen kommt, vielleicht wäre es besser, gewisse Dinge einfach zu erschlagen – so wie den einäugigen, lebensunfähigen Krebs? Nein, denn das Krabbenbrot mit Pumpernickel und zwei Eiern drauf ist ausgezeichnet, lecker, wie der Tiroler sagt. Und außerdem trifft man am Klo den Manfred Deix. FRANZOBEL