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Deutschland vor der Fußball-EMNagelsmann über den Erwartungen

Der Bundestrainer weiß, welche politische Kraft der Fußball entwickeln kann. Damit erweist er sich vor der anstehenden Heim-EM als realitätstüchtig.

Bundestrainer Julian Nagelsmann mit Joshua Kimmich bei einem Spiel gegen Österreich im November 2023 Foto: Christian Charisius/dpa

W arum nicht einmal Julian Nagelsmann loben? In dieser Kolumne geht es schließlich um die Politik des Fußballs, die EM steht vor der Tür, noch dazu im eigenen Land, und alle möglichen Schlaumeier schwafeln, dass aus dem Turnier doch bitte ein „Sommermärchen 2.0“ (ZDF, dpa, Badische Zeitung, Zeit Online, Bild etc.) werden solle.

Gemeint ist: Nur ein Fußball-Mega-Event ist es, das dieses Land noch nach vorne bringen kann. Zumindest, was sein Renommee im Ausland angeht. Bei der WM 2006, so erzählt man sich, wurde Deutschland plötzlich modern. Das Schwenken von schwarz-rot-goldenen Fähnchen galt als hippes Symbol für weltoffene Toleranz, und ein nationaler Optimismus machte sich breit. Kannste dir nicht ausmalen!

„Sommermärchen 2.0“ im Jahr 2024 heißt dann wohl: Dieses Land vergisst mal für die Dauer eines Fußballturniers seine Rechtsradikalen, seine Löcher im Staatshaushalt und seine Aufrüstungsdebatten und versprüht stattdessen Lust und Freude auf die Zukunft. Musst nur wollen!

Was hat das mit Julian Nagelmann zu tun? Nun, der ist ja ein „Klinsmann 2.0“, eine Art Gesicht des Partynationalismus, den sich von Scholz bis Merz, von Habeck bis Lindner so viele Vertreter des politischen Establishments wünschen. Aber warum ist Nagelsmann zu loben? Weil er sich jüngst im Spiegel gegen solche Erwartungen verwehrt hat: „Planbar ist so etwas eher nicht, und wir können auch von niemandem dafür verantwortlich gemacht werden, wenn die Probleme im Land nach dem Turnier nicht kleiner geworden sind.“

Ganz konkret sagte er: „Bei politischen und gesellschaftlichen Themen kommen innerhalb einer Fußballmannschaft, wo sich verschiedene Ansichten, Kulturen und Religionen versammeln, immer Diskussionen auf – und das schlägt in der Regel auf die Leistung.“

Realtitätsferne Erwartungen

Doch Nagelsmann quatscht nicht dumm von einem unpolitischen Sport daher. Er warnt nicht davor, dass „die Jungs“ sich auf „das Wesentliche“ konzentrieren müssten. Er sagt schlicht: „Wenn wir eine gute EM spielen, und hinterher melden sich 15 Prozent mehr Kinder bei Vereinen an, haben wir gesellschaftlich mehr erreicht als mit einer Geste vor einem Spiel.“

Kurz gesagt: Julian Nagelsmann weiß, dass der Fußball eine enorme politische Kraft besitzt, und genau der vertraut er. Links ist das nicht, aber es ist ein um mehr als nur eine Nuance realitätstüchtigeres Wissen, als solche Leute haben, die glauben, die blöde Masse bräuchte Spiele, um ruhiggestellt zu werden.

Fußball ist nämlich keine Ablenkung, sondern eine Erscheinungsform gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Wenn der Fußball möglichst inklusiv und divers aufgestellt ist, dann kann er zeigen, was gesellschaftlich möglich ist. Wenn aber diese Verpflichtung zur demokratischen Teilhabe ignoriert wird – weil plötzlich wieder „deutsche Tugenden“ gefragt sind, weil Queere und Migranten als nicht zum „Teamcharakter“ passend aussortiert werden -, dann wird diese merkwürdige Erwartung der Politik an den Sport, er solle als Fitmacher für das Land fungieren, scheitern.

Zu viel Lob für Nagelsmann? Wahrscheinlich, aber das „Sommermärchen“ war auch nicht so doll, wie es derzeit so oft schöngeschrieben wird.

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Martin Krauss
Jahrgang 1964, freier Mitarbeiter des taz-Sports seit 1989
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