■ Deutschland hat einen Zukunftsminister, die CDU einen Zukunftsparteitag, und wir wissen nicht, was Zukunft ist: Zukunftsimperialismus
„Es gibt keine bessere Zeit als die Gegenwart, Mann.“
Augy, der Landbesitzer, in dem Film „Smoke“
Ende der 70er Jahre provozierten „No Future“-Parolen. Bald aber schrumpften die apokalyptischen Zeichen zur modischen Attitüde. Die Sicherheitsnadeln der Punks wurde als Accessoires verkauft. Dennoch, „No Future“ markierte einen Wendepunkt. In den 70er Jahren wurde für jeden, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, spürbar, daß der Fortschritt, die Religion unserer Zivilisation, nicht in eine lichte Zukunft, sondern gegen die Wand führt.
Als bekannt wurde, daß alle materiellen Vorräte begrenzt sind, rieb sich die Gesellschaft für kurze Zeit die Augen und wunderte sich, wieso sie bisher an deren Unbegrenztheit hatte glauben können. Aber anschließend machten alle weiter wie bisher. Wer im großen Rennen einen Platz ergattern wollte, betrieb das Mitmachen nun mit doppeltem Einsatz und mit halbiertem Bewußtsein. Denken wurde zur Privatangelegenheit.
Zu wissen, daß alles Irdische eine endliche Veranstaltung ist, und danach zu handeln, das sind eben zwei sehr verschiedene Sachen. Sogleich wurde evident: Wer es wagt, dieser Einsicht zu folgen, wird den Betrieb stören und riskiert, ausgestoßen zu werden. Der Betrieb hat alles auf seinem Zettel, nur eben nicht die Tatsachen Endlichkeit, Maß, Begrenzung und Genuß der Gegenwart. Unsere Zivilisation lebt von dem illusorischen Gefühl, daß das Leben immer erst später kommt, ganz so, als gäbe es einen endlosen Vorrat an Zeit, aber erst in der Zukunft. Zukunft soll nicht überraschend sein, sondern endlos gedehnte Gegenwart. Deshalb auch die Bereitschaft, die Gegenwart dieser Zukunft zu opfern. Die Rache ist: Die einzige Ewigkeit, die es gibt, zu verpassen, die des Augenblicks.
Der Historiker und deutsche Emigrant Eric Vögelin interpretiert die Moderne als ein Kind der Großsekten im ausgehenden Mittelalter, die das himmlische Jerusalem hier und jetzt wollten: Himmel auf Erden. Die Gegenwart ist ein Jammertal, die Zukunft wird erfüllt sein. Die abendländische Religion verwies immer schon auf die wirklichere Zukunft im Jenseits, nach dieser trügerischen Endlichkeit. In den vergangenen Jahrhunderten wurde dieser Glaube säkularisiert und im Industriezeitalter unter den Fahnen von Konsumismus und Kommunismus an seine Grenze getrieben. Die Flucht in eine grenzenlose Zukunft des „Immer mehr“ und „Immer weiter“, um der Gegenwart zu entkommen, ist mit dem Zusammenbruch diesseitiger Paradiese im Osten und Westen erschöpft. Was jetzt ansteht, das ist der Abschied vom Omnipotenzwahn des Industriezeitalters und die Entdeckung einer paradoxen „irdischen Unsterblichkeit“, von der Hannah Arendt sprach. Die aber kommt nur zwischen Menschen auf. Dieses „Dazwischen“, Gegenwart, hält die Industriegesellschaft nicht aus.
Neuerdings verblüfft der Wechselbalg wieder mit seinen Metamorphosen. Lange trat Zukunft gemeinsam mit ihren linken Schwestern Utopie und Fortschritt auf. Als sich Apokalypse einmischte, wurde die Trinität zerrissen, und es wurde still. Nun feiert Zukunft eine merkwürdige Wiedergeburt.
Seit einem Jahr hat Deutschland einen Zukunftsminister, Jürgen Rüttgers, und dessen Partei, die CDU, hat einen Zukunftsparteitag abgehalten. Nun endlich, mag man sagen, entdeckt eine Gesellschaft, deren heimliches Motto „Nach uns die Sintflut“ heißt, jene Zukunft, auf deren Kosten wir leben. Wirklich? Oder folgt sie nur weiter ihrem panischen Fluchtimpuls: weg, weg, statt sich endlich auf neue Wege zu wagen? Flucht ins Neue, in die Zukunft oder in die „Innovation“, damit wir bloß nicht uns selbst begegnen?
Bill Gates, Gründer und Eigner von Microsoft, ist der zeitgenössische Zukunftsapostel. Aber wer die 500 Seiten seines Buches „Der Weg nach vorn“ gelesen hat, weiß, daß er außer dem „Immer mehr“ nichts vorzuschlagen hat. Gates repräsentiert das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters, das den Fortschritt zugleich als erfülltes und sicheres Leben dachte. Jetzt soll der Fortschritt technisch sein. Das Paradies steckt im Internet. Wobei gegen die Nützlichkeit der Netze nichts eingewendet werden soll, wohl aber gegen ihren faulen, spätreligiösen Zauber. Die Netze versprechen den Menschen, die sich zunehmend verlassen fühlen, Halt. „Netz“ soll von etwas künden, wofür es doch nur eine Prothese sein kann: Freundschaft, Gespräch und Sichversammeln, um mit Lust jene Zwischenräume zu schaffen, aus denen eine gemeinsame Welt entsteht. Aber dieses Gewebe zwischen Menschen kann das Internet nicht bilden. Es wird wieder nur versprochen und auf die Zukunft verschoben. Der notwendige Diskurs über uns und über unsere alltägliche Religion wird in eine verheißungsvolle Zukunftsdebatte auf die Datenautobahn geschoben: last exit paradise.
Und auch die Großtöner der Zukunftsfähigkeit wie Herbert Henzler und Lothar Späth können in ihrem Buch „Countdown für Deutschland“ ihren religionsgeschichtlichen Hintergrund nicht verbergen. Deutschland, noch Weltmeister in einigen industriellen Disziplinen, sehen sie vom Abstieg bedroht. Deutschland, der Weltmeister – Deutschland, das auserwählte Volk.
Das Zauberwort des vergangenen Jahres heißt denn auch Multimedia. Aber die Wahrheit zeigte sich dann doch im Weihnachtsgeschäft. Der Hit waren diesmal Kuscheltiere, nicht für Kinder, nein, Kuscheltiere sind der Renner bei Erwachsenen. Und inmitten dieser Großprothesen der Infantilgesellschaft hören wir aus Politik und Wirtschaft das Gemurmel ihres Schibboleth: „Zukunft“. Im neuesten Dialekt buchstabiert, heißt das Paßwort: „Zukunftsfähigkeit“.
Daß es um die nicht gut bestellt ist, weiß jedes Kind. Man muß nicht erst die Bilanzen von Ressourcenverbrauch und zurückbleibendem Müll und Gift lesen. Aber die Zukunftspanik setzt einseitig auf die große Beschleunigung. Sie opfert trotz allen Redens über die Innovtionsschwäche des Landes namens Standort-Deutschland die langsameren Inkubationszeiten der Kreativität und die Umwege produktiver Tätigkeit – so wie jeden Tag mehr Ackerland verlorengeht, als in tausend Tagen neu entstehen könnte. Die globale Grammatik des Zukunftsimperialismus heißt: Nach uns die Mutation.
Arthur Schopenhauer hat das alles schon gewußt. Er schrieb: „Alle arbeiten sie für die Zukunft, dieser opfern sie ihr Daseyn; – und die Zukunft macht Bankrott.“ Reinhard Kahl
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