Frau Schwab war’s : Deutschland, ein Klingelton
Ich war’s. Im Augenblick, in dem alle anderen den Atem anhalten, ganz Ohr sind, ihre Augen auf den Mann richten, der da zum Licht wandert und es doch nie erreicht, ist es passiert. Er steht auf der Bühne, der Schauspieler, nur er und seine Sprache. Er spielt einen Ostwanderer oder einen Westwanderer – wie kann ich das noch wissen, besetzt von Scham, gar von Schuld, weil ich’s war: Mein Handy ging an. Im Theater.
Heinrich Heine wurde gegeben, „Deutschland, ein Wintermärchen“. Nicht eins zu eins. Das Stück schreibt die Heine’sche Sehnsucht weiter bis in die neueste deutsche Geschichte hinein. Der Ostwanderer zitiert Heine, weil er aus dem Osten kommt. Der Westwanderer zitiert Heine, weil er aus dem Westen kommt. Beide sind darüber alt geworden. Sieger gibt es keine.
„Deutschland, ein Wintermärchen“ – als in Sprache gegossenes Gefühl ist mir der Text in Erinnerung. Mehr nicht. Da ist einer, der ist ganz verwaist: verlassen vom Vater Land, getrennt von der Mutter Sprache. Seine Poesie ergießt sich in Rhythmus, in Melodie. Die Worte, die Bilder – ich kann sie nicht festhalten. Der Rhein nimmt sie mit, trägt sie ins Meer.
Nur einmal, in jenem magischen Moment, als der Ostwanderer-Westwanderer gegen das Licht geht, ohne es zu erreichen, verstehe ich, was er sagt: dass Frankreich das Land hat, England das Meer, Deutschland aber die Träume. Da klingelt das Telefon. In meiner Tasche. Ich will mich über sie werfen. Sie zum Schweigen bringen. Den Mantel der Nachbarin, der auf dem Boden liegt, schützend darumwickeln.
„Stellen Sie’s aus“, zischt eine Frau mit Locken, die neben mir sitzt. Ich nehme die klingelnde Tasche hoch, schaue sie entsetzt an, weiß, dass es aussichtslos ist: Ich werde es nie finden. „Gehen Sie raus“, zischt die Frau mit den Locken. Sie macht alles noch schlimmer. Bevor ich draußen wäre, hätte es längst aufgehört. Jetzt hat es aufgehört. „Stellen Sie das Telefon aus“, zischt die Frau erneut. Sie weiß nicht, was sie verlangt. Die Tasche enthält viel mehr als Lippenstift und Puder. Und nichts liegt an seinem Platz. Ich ziehe den Reißverschluss auf und schließe ihn wieder. Da begreife ich: Der Anrufer könnte es noch einmal versuchen! Derweil spricht der Schauspieler weiter. Nur was? Meine Hand, die tut, als wäre sie vom Kopf getrennt, durchsucht die Tasche. Mein Kopf, von der Hand getrennt, konzentriert sich auf das weiße Schauspielergesicht. Er muss stärker sein, er muss stärker sein! Da siegt er. Die Hand findet das Handy und stellt es aus. Verstanden hab ich nichts mehr.
Es ist unfair. Die Intensität, mit der die Schauspieler die Vergänglichkeit der Worte zur Vergänglichkeit des Lebens werden lassen, bündelt die Konzentration im Raum. Nur meine ist verloren. Im Spiel treffen sich die zwei Alten im Altersheim. Die Welt hat sich von ihnen abgewandt, wie einst Deutschland von Heine.
Gespielt wird im Glaskasten. Jenem Ballsaal im Wedding, den die Berliner so lange vergessen haben. Früher war es eine Lokalität, an der sich das kommunistische Arbeiterherz erfreute. Die Nazis machten eine Saufbude samt Folterkeller daraus. Irgendwann im Stück lesen die Schauspieler die Geschichte des Ortes vor. Es hat etwas mit den Geschichten des Ostwanderers und des Westwanderers zu tun. Da, endlich, verstehe ich den Text wieder. WALTRAUD SCHWAB
Gehen Sie hin. Aber tun Sie alles, damit Sie’s nicht waren. Noch bis Samstag haben Sie die Chance. 20 Uhr, im Glaskasten, Prinzenallee 33.