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Deutschland 1993. Wie weit haben sich in den Städten die Lebensverhältnisse angenähert? Mit welchen Problemen kämpfen die Kommunen in Ost und West? Die taz recherchierte in Görlitz, ganz im Osten an der Grenze zu Polen, und in Wiesbaden. taz-Wessi-Reporterin Heide Platen, sonst in Frankfurt/Main, begab sich auf die Reise nach Sachsen, taz-Ossi Detlef Krell, Korrespondent in Dresden, fuhr in die hessische Landeshauptstadt. In Görlitz platzte Heide Platen mitten in die Haushaltsberatungen einer arme Stadt.  ■ Aus Görlitz Heide Platen

Spätgotik, Renaissance, Barock, Gründerzeit und Jugendstil – Straßenzug um Straßenzug und in konzentrischen Kreisen rund um das Rathaus ist Görlitz ein Freilichtmuseum für Architekturgeschichte. Die östlichste Stadt der neuen Bundesrepublik ist arm am Beutel, im Krieg kaum zerstört, aber, wenn auch arg pflegebedürftig, im Kern von malerischer Schönheit. Görlitz ist „Modellstadt der Altstadtsanierung“ und eigentlich ein Faß ohne Boden. Die vielen Baugerüste wirken fast verloren zwischen all den Häusern, die es auch sehr nötig hätten.

Die Besichtigung ist allerdings lebensgefährlich. Seit zwei Tagen hüllt dichtes Schneegestöber die Stadt ein. Die Görlitzer sind ordentliche Leute, die die gnädig zugedeckten Fußfallen auf den Bürgersteigen emsig wieder freifegen und schaufeln, aber nichts davon halten, mit Sand oder Asche zu streuen. Das verwandelt den Stadtbummel in eine Rutschpartie. Gab es diese systematisch angelegten Menschenfallen, frage ich mich ingrimmig, schon zu DDR-Zeiten oder sind sie speziell für Westschuhe angelegt?

Die Schatulle der Stadt ist leer. Das Geld aus Bund und Land, das sie vorübergehend füllte, fließt spärlicher, die Kosten sind gestiegen. Deshalb hat Oberbürgermeister Lechner im Januar einen Brandbrief an Ministerpräsident Biedenkopf nach Dresden geschickt. Er bat darin um zusätzliche Hilfe von 32 Millionen bei einem Gesamtdefizit von 49 Millionen Mark. Der Haushaltsentwurf 1993 ist so dick und so schwer wie ein Postpaket. Auf 717 Seiten hat die Verwaltung versucht zu sparen, zu sparen und noch einmal zu sparen. Darin war sie sich zur 1. Lesung im Dezember sogar mit der Opposition einig. Und dennoch ist das schwergewichtige Gesamtwerk ein Zankapfel zwischen den Fraktionen geworden.

Im kargen Saal der Elisabeth- Schule tagt die Stadtverordnetenversammlung Ende Februar sechs Stunden lang. Die Opposition blockiert die 3. Lesung des Haushalts. Sie wirft dem Magistrat vor, er habe zwar ordentlich gespart, aber vergessen, deutlich zu sagen, an welchen Stellen. Der Haushalt, so die KritikerInnen, sei eigentlich gar keiner, sondern lediglich ein „Blankoscheck“, ein Freifahrtschein, je nach Gusto dort den Rotstift anzusetzen, wo es sich gerade nach Lust, Laune und momentaner Opportunität ergebe. Das aber hieße für die städtischen Angestellten und Einrichtungen, daß sie alle auf Jahre hinaus in Ungewißheit leben müßten. Es gehe auch nicht an, immer nur „bei Kultur, Jugend und Soziales“ zu sparen.

Das machte CDU-Bürgermeister Matthias Lechner sehr ärgerlich. Er kontert, die Opposition, zu der diesmal auch die ehemaligen Bündnispartner DSU und SPD gehörten, habe der Verwaltung keinen klaren Auftrag erteilt und es überhaupt versäumt, Anträge zu stellen und abstimmen zu lassen, nicht einmal Zahlen genannt.

Inzwischen hat Görlitz seinen Haushaltsfrieden wieder. Ein überparteilicher Konsolidierungsausschuß tagte kurzfristig und der Haushalt wurde in einer Sondersitzung verabschiedet. Verändert ist er zwar nicht, aber ab sofort soll er nur noch als verhandlungsfähige „Grundlage“ dienen.

Carola Frenzel wirkt praktisch und energisch. Das muß sie auch sein. Die Leiterin der Stadtkämmerei hat bei leeren Kassen ein schweres Amt. Sie rechnet vor, daß die angegriffene Verwaltung schon ganze Arbeit geleistet habe. Allein zehn Millionen Mark habe sie bei den Personalkosten mit 250 nichtbesetzten Stellen à 40.000 Mark im Jahr eingespart. Dazu komme der in der Tat „krasse Abbau“ bei den Kindertagesstätten. Vieles müsse noch privatisiert werden, zum Beispiel Straßenmeisterei, Streudienst und die Pflege von Grünanlagen. Sie wisse ja auch, daß es in der Stadt zwei widerstreitende Linien gebe, nämlich die „Kulturschiene“ und diejenigen, für die Wirtschaftsförderung, und damit Gewerbesteuereinnahmen, die absolute Priorität vor allem anderen hat. Immerhin solle die Volkshochschule erhalten bleiben. Aber: „Dann noch Museen, Theater und Stadthalle. Das fällt uns echt schwer!“ Andererseits müsse bedacht werden, daß es kulturelle Einrichtungen dringend brauche, um „jemanden überhaupt hierher zu locken“. Frenzel: „Wir liegen zu weit im Osten und die Autobahn endet in Bautzen.“ In der Partnerstadt Wiesbaden habe sie gesehen, daß weniger Personal auch produktiv sein könne: „Da gibt es weniger Beamtenschlaf.“ Und dann blickt sie um sich, als ob gleich hinter ihr ein sozialistisches Schnarchen ertönen könnte und wird zum Schnellfeuer der Effektivität: „Mehr Eigeninitiative, mehr freiwillige Schulung, nicht alles von oben diktieren lassen, nicht immer schon um viere gehen!“

Wirtschaftsdezernent Dirk Morbitzer und sein Kollege, der Sachbearbeiter Wolfgang Keller, versuchen sich in Optimismus, obwohl sie eigentlich viel zu klagen hätten. Die Optik-Firma Pentacon ist nach mißglückter Privatisierung geschlossen, vom Kondensatorenwerk blieben 20 der 1.000 Arbeitsplätze erhalten, die Frauen aus der Textilindustrie sind arbeitslos. Die Süßwarenfabrik ist auch weg. Dabei hätten die Liebesperlen, Dragees und Bonbons den Leuten, erinnert sich Keller, „vor der Wende gut geschmeckt“. Da ist der Waggonbau ein Trost, denn im von Siemens übernommenen Turbinenbau sieht es, trotz Investitionen, ebenso wie bei „der Keramik“, auch „nicht so rosig“ aus. Dafür läuft wenigstens die Landeskron- Brauerei mit ihrem herben, feinen Pils wieder gut. Morbitzer: „Alle Gemeinden schreien nach Gewerbe. Wir auch!“ Die „offizielle“ Arbeitslosigkeit liegt bei 13 Prozent, die inoffizielle bei ungefähr 30.

Die Stadtplaner träumen davon, die alte Uferstraße an der Neisse wieder zur Flaniermeile zu machen. Aber gerade da steht mittendrin noch der umstrittene Massa-Markt. Ganze Straßenzüge sind renovierungsbedürftig „und noch zu haben“: „Da kann noch jeder Investor mit dem richtigen Konzept rein.“ Die Rückforderungen sind ausgesetzt. Investoren haben seit Juli 1992 Vorrang.

Die Bevölkerungszahl in Görlitz sinkt noch immer dramatisch. Die jungen Leute ziehen, wie schon zu DDR-Zeiten, weg von der „unerfreulichen Randlage“. Die Einwohnerzahl ist seit 1950 um über 30.000 auf 70.000 gesunken, ein Drittel ist über 50 Jahre alt. Die seit 1873 kreisfreie Stadt hofft jetzt auf die Eingemeindung umliegender Orte.

Daß bei allem Mangel das Baugewerbe boomt, ist nicht zu übersehen. Die Hotels sind allnächtlich ausgebucht. Monteure, Vertreter auf Ostkurs, Bauarbeiter und noch einmal Monteure drängen sich morgens im Frühstücksraum und räumen die rustikalen Wurstplatten ab. Sie scheinen vom Dialekt her die einzigen Sachsen im Ort zu sein. „Do schdet de Wurschd!“ deutet einer mit mitleidigem Blick auf meinen aus gutem Grund kargen Teller.

Im kleinen Dienstzimmer der wegen Renovierung geschlossenen Städtischen Kunstsammlung läßt Geschichtsexperte Ernst Kretzschmar die wechselvolle Historie der „Perle Niederschlesiens“ Revue passieren. Die Stadt ist „schon seit den fünfziger Jahren“ ein Flächendenkmal. Für die Umsetzung dieses Anspruchs aber habe es „kein Geld, kein Material, keine Leute“ gegeben. Eine Spezialität rühriger Görlitzer Bürger und Denkmalschützer war es, Straßenzüge vor dem Abriß zu bewahren, indem sie jeweils wenigstens die Häuser an den Kreuzungen auf den Eckgrundstücken instand setzten.

Ein Höhepunkt des Wohlstands der Handelsstadt zwischen Ost und West, Nord und Süd war das späte Mittelalter. Fast 600 Jahre lang gehörte Görlitz zu Böhmen und orientierte sich wirtschaftlich und kulturell mehr nach Prag als nach dem Westen, ehe es 1635 an Sachsen fiel. Die mittelalterlichen Hallenhäuser der Kaufleute sind an ihren großen Einfahrten für die Planwagen zu erkennen. Das Gründerviertel ist den Preußen zu verdanken und war einst „eine Pracht“. Görlitz habe sich, sagt Kretzschmar, viel mehr zu Preußen und Schlesien zugehörig gefühlt als zu Sachsen. Die preußische Okkupation von 1815 erwies sich als vorteilhaft und brachte sehr früh Industrie in die Stadt. Kunst und Kultur blühten. Furtwängler dirigierte in der 1908 erbauten Stadthalle die Berliner Philharmoniker. Preußische Pensionäre kurten im Riesengebirge und siedelten sich in Görlitz an, das „mehr Parks hatte als Berlin“. Sie konnten unter fünf Tageszeitungen und rund 300 Wirtshäusern auswählen. Freidenker und Sozialdemokraten prägten das Klima. Die Nazis, weiß Kretzschmar, „kamen hier erst nach der Weltwirtschaftskrise zum Zuge“. Er ist stolz darauf, daß der Jüdische Friedhof nie zerstört wurde und die Synagoge, wenn auch zeitweilig als Turnhalle und Kulissenlager zweckentfremdet, noch steht und jetzt restauriert wird.

Daß die Görlitzer „andere“ Sachsen sind, fällt schon am Dialekt auf: sie haben fast keinen. Deshalb wollen sie auch im Landtag für sich und ihre Nachbarstädte den Namen „Niederschlesischer Oberlausitz-Kreis“ durchsetzen. Eigentlich hatten sie sich ein eigenes Bundesland Schlesien erhofft. Aber dafür sind sie wohl doch zu klein. Das sei, betont Kretzschmar, „kein Separatismus“. Görlitz soll nun wenigstens Kreisstadt werden. Daß der Kontakt zum ehemaligen Ostteil der Stadt, dem polnischen Zgorzelec am anderen Neisse- Ufer besser sein könnte, merkt der Direktor der Stadtbibliothek, Stefan Waldau, im Stadtführer an: „Freundesland? Wir kannten uns nicht.“ Dieses „Fremdsein“ und der Ärger wechselseitiger Hamsterkäufe sind bisher nicht aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden.

„Es gibt“, hatte Kämmerei-Leiterin Frenzel gesagt, „hier zwei Linien. Die eine will den wirtschaftlichen Aufschwung, die andere ist die Kulturschiene.“ GegnerInnen der pragmatischen Stadtpolitik wehren sich vor allem gegen die befürchtete Theaterschließung: „Man soll doch nicht so tun, als ob alles Elend, alle Not nur von der Kultur kommt.“ Eigentlich, geben sie zu bedenken, stünde doch „die Kulur im Zentrum des Lebens“, sollte ihr humanistischer Mittelpunkt sein. „Wofür“, fragt einer, „arbeiten wir den sonst?“ Kultur sei, punktum, „Motivation für die Menschen und nicht Belastung der Steuerzahler“. Und sie dürfe „nicht nur für Eliten da sein“.

Ein wirkliches Schmuckstück der Stadt ist allerdings eher profaner Natur. Am Demianiplatz hat die Firma Karstadt das Kaufhaus übernommen. Zwar verstellen die Wühltische mit Kram und Krempel im Erdgeschoß den Blick auf Treppen und Geländer. Der 1912 nach den Plänen des Potsdamer Architekten Carl Schumann mit der bemalten Glaskuppel ist vollständig erhalten und damit das einzige authentische Beispiel für die luxuriöse Warenhausarchitektur in der Nachfolge des Berliner Vorbildes Wertheim. Und der Konsumtempel ist auch wirtschaftlich ein Trost. Alle Verkäuferinnen sind übernommen und neue dazu eingestellt worden. Die Waren unterscheiden sich, wie anderswo im Osten auch, noch immer erheblich von denen westdeutscher Filialen des Konzerns. Der Ramsch hat Konjunktur, das Angebot ist vor allem billig und massenhaft.

Die Marktbuden auf einem der schönen weiträumigen Plätze, die sich die Stadt einst leisten konnte, sind wenige und unterscheiden sich wohltuend von den reisenden Plunderkarren in anderen Städten. Es gibt noch Görlitzer Wurst und frisches Brot aus der Bäckerei. Und am Main sind mir schon wesentlich mehr unverzollte Zigaretten sehr viel weniger dezent angeboten worden als an der Neisse.

In Görlitz, fast ein Dreiländereck, habe ich allerdings, und das irritiert mich immer wieder, nicht nur keinen Kebab-Stand, keine Pizzeria gesehen, sondern auch, außer ein paar versprengten Polen, keine Ausländer getroffen. Vielleicht hat es am Wetter gelegen.

Ob das Euro-Theater, ein deutsch-polnisches Projekt über der Neisse, je gebaut werden wird, steht in den Sternen. Seine Befürworter versprechen sich davon ebenso eine neue, grenzübergreifende Attraktivität wie von den gemeinsamen „Europera“-Musikveranstaltungen. Eine ähnlich völkerverbindende Funktion soll eine Fußgängerbrücke über die Neisse haben. Aber auch sie wird sich vermutlich nur finanzieren lassen, wenn die Stadt weitere Immobilien verkauft. Davon lebt sie seit einer geraumen Weile. Die Sorgen, die die Partnerstadt Wiesbaden wegen der Planung des 60 Millionen Mark teuren Musikpalastes umtrieben, „möchten wir“, so Carola Frenzel, „auch gerne mal haben“.

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