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Deutscher Schulpreis geht nach GöttingenEhrung für den Klassenfeind

Ausgerechnet eine Gesamtschule bekommt den Deutschen Schulpreis. Bundespräsident Christian Wulff hatte diese Schulform als Ministerpräsidient verbieten wollen.

Einst sollten in Niedersachsen Gesamtschulen verboten werden: Integrierte Gesamtschule Göttingen. Bild: IGS Göttingen

BERLIN taz | Dreimal haben sie ihn eingeladen. Dreimal hat er zugesagt und kam dann doch nicht. Nun gut, dachten sich die Eltern und Lehrer der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen. Wenn Christian Wulff nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihm. Und nun sind sie da.

In Berlin werden heute die Deutschen Schulpreise verliehen. Und als Hauptpreis überreicht Bundespräsident Christian Wulff den Schülern und Lehrern der integrierten Gesamtschule einen der geflügelten Stühle und einen Scheck über 100.000 Euro. Das ist nicht nur der wichtigste hiesige Preis, der die Schule in die Liga der Vorzeigeschulen hebt. Das ist zugleich eine Demütigung für Christian Wulff und die CDU-Bildungspolitik.

Als der Christdemokrat Christian Wulff im Jahre 2003 als Ministerpräsident das Land Niedersachsen von der SPD übernahm, trat er mit dem Versprechen an Gesamtschulen wie die IGS Lichtenberg von der schulpolitischen Landkarte zu tilgen. Die Schulform Gesamtschule sollte aus dem Schulgesetz gestrichen, Neugründungen verboten werden.

Wulff wollte am dreigliedrigen Schulsystem festhalten

Nach seiner Wiederwahl im Jahre 2007 lockerte Wulff dieses Verbot, bekräftigte in einem Interview im Oktober des gleichen Jahres aber: "Setzt man diese Schulform landesweit durch, würde das das Aus hunderter Schulstandorte bedeuten. Wir lassen uns das dreigliedrige Schulsystem nicht zerschlagen."

Doch die Flügel am Schulpreisstuhl könnten nun politisch einigen Wind entfachen. Darauf hoffte Rektor Wolfgang Vogelsaenger, als sich seine Schule für den Schulpreis bewarb.

Denn der Kampf um die Schule und ihr Konzept des gemeinsamen Lernens geht weiter. Zwar lässt die schwarz-gelbe Regierung seit 2007 wieder neue Gesamtschulen zu. Zwar will die CDU in Niedersachen und auch bundesweit Haupt- und Realschulen zusammenlegen.

Doch die schwarz-gelbe Regierung von David McAllister (CDU) versucht die im Lande beliebten Gesamtschulen mit dem Schnellläuferabitur auszukontern. Legten Gesamtschüler bisher nach Klasse 13 die Reifeprüfung ab, müssen sie künftig wie Gymnasiasten in Klasse 12 antreten

Göttinger Gesamtschule setzt auf Teamarbeit

"Das macht unser Konzept kaputt", meint Rektor Vogelsaenger. Es lautet: "Kinder lernen von Kindern und mit Kindern." Bis zum mittleren Schulabschluss in Klasse 10 verzichtet die Schule auf jede Separierung nach Leistungen. Stattdessen setzt man hier bewusst auf Verschiedenheit. Die Schüler lernen in Tischgruppen: "Bei uns gehts viel um Teamarbeit. Man achtet darauf, dass aus jedem Fach ein Profi dabei ist", erklärt Felix (16), der gut in Mathe ist und ursprünglich mit einer Gymnasialempfehlung kam.

Am Ende zählt nicht, was der Einzelne abliefert, sondern was die vier bis sechs Jungen und Mädchen der Tischgruppe zusammen vorzeigen können. "Ein Kind soll nicht nur Mathe lernen, es soll ihm auch gut gehen dabei", erklärt Mathelehrer Detlef Oesterheld. Er lässt die Schüler, die Regeln lieber selbst erarbeiten, statt sie ihnen zu erklären: "Obwohl das in fünf Minuten ginge, andersherum dauert es manchmal eine Stunde."

Erfolgreiche Wohlfühlpädagogik

Mit dem Turboabi steigt der Zeitdruck. Und es bedeutet, dass die Schüler in der neunten Klasse getrennt werden - die Mathecracks büffeln fürs Abi, der Rest muss sich die Aufgaben wieder vom Lehrer erklären lassen. Dabei ist die Göttinger Wohlfühlpädagogik sehr erfolgreich. 70 bis 75 Prozent der Schüler eines Jahrgangs machen Abitur - deutschlandweit war es im Jahre 2009 ein Drittel.

"Ein Platz hier ist in unseren Kreisen das große Los", sagt Elternvertreter Andreas Backfisch. "Unsere Kreise", das sind die bildungsbewussten Bürger Göttingens. Die taz besuchte die Schule im April 2010, als die Eltern mittels eines Volksbegehrens gerade versuchten, das Turboabi zurückzudrehen und die Gründung neuer Gesamtschulen zu erleichtern. Bislang ohne Erfolg.

Vielleicht ist so ein Schulpreis ein stärkeres Argument als eine Viertelmillion Unterschriften. Das hofft jedenfalls Vogelsaenger, der das Aussortieren der Schüler nach Leistungen für den größten Fehler des deutschen Schulsystems hält. "Wir haben gezeigt, dass es anders geht. Und was wir können, das kann jede Schule." Deshalb hätte man den Schulpreis verdient, meinte der Rektor. Zu der Vorstellung, das Christian Wulff ihm heute die Hand schütteln könnte, sagte er nur: "Pikant."

Auf taz-Anfrage hieß es aus dem Bundespräsidialamt: Der Bundespräsident würdige ausgezeichnete Projekte, keine Schulformen. Er nehme an der Verleihung teil, damit gute Schulen Schule machten.

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7 Kommentare

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  • P
    Petra

    Jetzt schlagen sich die IGS-Befürworter wieder rhythmisch auf die Schilde und die IGS-Gegner heulen im Pawlowschen Reflex was von "Schiebung".

     

    Leute, wann werdet Ihr endlich verstehen, dass gute Schule nicht abhängig ist von der Schulform, sondern von gut ausgebildeten Lehrern, lernwilligen Schülern und engagierten Eltern.

     

    Gute Schule braucht gute Konzepte. Und wer sich auf der Seite der Robert-Bosch-Stiftung umgesehen hat, weiß, das unter den Preisträgern seit 2006 alle Schulformen zu finden sind.

  • EK
    Emilia Konrad

    Ein Pamphlet.

    In einer solchen freiheitlich demokratischen Bundesrepublik, wie Deutschland eine ist, lassen sich mehrere unterschiedliche, tief verankerte, kaum lösbare Probleme diagnostizieren. An dieser Stelle sei allerdings ein besonders schwerwiegendes hervorgehoben, welches – wie viele anderen auch – Generationen nachhaltig prägen und auf ihr Dasein vorbereiten soll: Die Schulpolitik oder besser der unerbittliche Streit von Bund und hauptsächlich Ländern, um die gelungenste und vorbildlichste Schulform allgemein. Finnland hat sein Problem da bereits hinreichend gelöst. Das gängige deutsche konservative Muster hält bedauerlicherweise ergiebig am dreigliedrigen Schulsystem fest. Der hochgelobte und viel zu viel gefeierte Bundespräsident, ebenfalls ein entschiedener Verfechter der überholten dreigliedrigen Schulform, hat versucht die bemerkenswerteste Schule Deutschlands „aus den Angeln zu heben“ und kann so modern und offen wohl doch nicht sein. Bei der Preisverleihung des deutschen Schulpreises 2011 ist seine Person daher auch zunehmend aufgefallen durch eine widersprüchlich, bemühende Wortwahl. Schließlich hat eben keine Schule aus dem nach Autonomie strebenden, angeberischen, pseudoelitären Bayern oder dem endlich bekehrten, nun vielleicht doch geretteten Baden-Württemberg gewonnen, sondern eine große Schule aus dem tiefsten und vielzitierten langweiligen, ziemlich vergessenen Niedersachsen, welches an die Küste des Meeres schlägt. Auch hat kein noch so gelobtes autoritäres Gymnasium, welches seinen Schülern das Demonstrieren verbietet oder eine herkömmliche abwartende Realschule gewinnen können. An der hohen Spitze steht mit Abstand die glorreiche, durch die vielen Kämpfe die sie schon gefochten hat, leicht buckelige, aber farbenfrohe, integrative und engagierte Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule aus Göttingen. Jetzt ist sie schriftlich mit schwarzer Tinte auf weißem glänzendem Papier festgeschrieben, die sinnvollste Schulform, die bemerkenswerteste Schule aus Deutschland. Vielen Dank Herr Wulff und Tschüß.

  • S
    sasiflo

    Die Aussage des Bundespräsidialamtes ist ja leider ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sich die Politik weiterhin ihrer Leistungsideologie ergibt und ohne Rücksicht auf Verluste der Realität verweigert.

     

    Auf diese Weise bekommen wir in Zukunft immer schneller die Gesellschaft, deren Auswüchse sich doch bereits immer stärker zeigen: Perspektivlose Menschen, die sich in Gewaltorgien ergehen, und fehlende Solidarität. Und die Armen werden weiter arm bleiben, damit die Reichen jemanden haben, auf den sie von oben herabblicken können.

     

    Bildungspolitik interessiert aber immer noch keine Sau, es reicht ja auf "die Verhältnisse" zu schimpfen, weil "die Schlechten" ja immer die Anderen sind.

     

    Die IGS in Göttingen ist ein wunderbares Beispiel, wie Schule sein könnte.

  • N
    Name2

    Viele Gesamt- und Grundschulen waren erfolgreich, nur wenige Schulen der klassischen Dreigliedrigkeit. Nun kann es an der Jury liegen, an den Kriterien, die "Schulen für alle" bevorzugen oder an den Schulen/Schulformen, die wertvolle Kriterien, für die die Kriterien des Deutschen Schulpreises zu halten sind, am ehesten annehmen und erfüllen.

  • P
    Paulson

    Ich selber habe bis mitte letzten Jahres an einer Gesamtschule mein Abitur gemacht (KGS Moringen) und war mit der Schule mehr als zufrieden, es war eine gute Schule mit tollen Lehrern die uns "eigentlich alle" was beibringen wollten. Ich kann es durchaus verstehen das eine GS den ersten Platz gemacht hat und verstehe nicht wie man diese Schulform verurteilen kann!

  • W
    Wolle

    Minderheitenwettbewerb. Wenig Interesse am Deutschen Schulpreis. 99,7 % der deutschen Schulen nehmen an diesem Wettbewerb nicht teil.

  • N
    Name

    Nicht so überraschend - bereits bei der ersten Verleihung des Deutschen Schulpreises war eine IGS unter den ersten Plätzen.