Deutscher Reggae: Straßenmusik, frisch vom Boxhagener Platz
Der Sommer kann kommen - die Berliner Kiez-Band Ohrbooten haben ihr neues Album veröffentlicht. Ein Gespräch mit Sänger Benjamin Pavlidis.
E s ist warm. Es ist sogar sehr warm. Also trägt Benjamin Pavlidis das T-Shirt über die Schulter gelegt und eine kleinere Sammlung indianischer Tätowierungen zur Schau. Die Sonne hat entschieden, dass der Sommer beginnt, und der Sänger der Ohrbooten das angemessen zu begrüßen. Also denn: "Erstmal ne Apfelschorle, wa?"
Natürlich ist es eigentlich streng verboten, Artikel mit Hinweisen auf das Klima zu beginnen, aber in diesem Fall muss die eine, berühmte Ausnahme gemacht werden: Denn die Jahreszeit hätte kaum angemessener sein können für das zweite Album der Ohrbooten. Schließlich ist "Babylon bei Boot" ein Reggae-Album geworden, das die mit dieser Musiksparte gewöhnlich verbundenen Vorzüge noch einmal feiert, ohne dabei allzu klischeeverliebt zu werden. Außerdem: Die Keimzelle der Band erwarb erste musikalische Erfahrungen einige Jahre lang vornehmlich als Straßenmusiker. Ohne ein wenig, oft so nötigen Sonnenschein wären die Ohrbooten also womöglich nie entstanden.
Und das wäre schade. Wäre diesem Land doch die erste - und bislang auch einzige - Reggae-Combo mit berlinernden Texten entgangen. Auch wenn die dialektische Färbung auf dem neuen Album lange nicht mehr so ausgeprägt ist wie auf dem vor zwei Jahren, natürlich auch im Sommer erschienenen Debüt "Spieltrieb", bilden die Ohrbooten doch eine weitere Facette in einer zunehmend bunter schillernden deutschen Reggae-Szene.
Die feiert in den letzten Jahren Erfolge und ist längst unabhängig von den Vorbildern aus Jamaika, deren Auftritte hierzulande zunehmend spärlicher werden. Die Jamaikaner sind oft unzuverlässig, und manche Auftritte werden wegen homophober Tendenzen durch Proteste verhindert. Die Lücke füllen deutsche Acts, viele davon aus der Hochburg Berlin: Ob Seeed, Culcha Candela, Mellow Mark, Nosliw oder eben die Ohrbooten, alle haben sie längst eine eigene Ausdrucksform gefunden und die Strukturen und Rituale von Dancehall, Dub und Roots Reggae an mitteleuropäische Bedürfnisse angepasst. Die Hülle Offbeat wird gefüllt mit völlig neuen Inhalten.
Diese Inhalte allerdings sind bisweilen gewöhnungsbedürftig: "Ich muss andauernd reihern", singt Pavlidis, "ich hab Dünnschiss/ und der stinkt nach faulen Eiern". Es reimt sich immerhin, und manchmal werden die Ohrbooten auch mal ernst. "Zehn kleine Menschen" gibt sich gesellschaftskritisch, kippt dann allerdings auch ins Religiöse. Dann geht es in "Alle gegen alle" gegen die Ellbogengesellschaft, in "Bild dir deine Meinung" gegen die Medien, oder in "Irgendwas ist doch immer" gegen die Berufsnörgler, gegen Klingeltöne und sogar gegen "zu viel Berliner Slang".
Von dem konnte man allerdings zuvor selber kaum genug bekommen. "Spieltrieb" war deshalb so erfrischend, weil das Album direkt von der Straße zu kommen schien - und das nicht nur textlich. Akustisch eingespielt klang es rüde und unverstellt, mal eben hingeworfen wie auf dem Weg zum Auftritt im U-Bahn-Schacht. Das neue Album nun, erzählt Pavlidis, sollte vor allem die mittlerweile legendären Live-Qualitäten der Ohrbooten einfangen und "fetter klingen". Das ist zweifellos gelungen: Der Sound ist rund, orientiert sich am klassischen Roots Reggae, denn der macht nun mal einfach "Sau-Laune", aber lässt viele Einflüsse zu, ob aus Punk oder vom Balkan, aus griechischer Folkore und Hiphop. Den Puristen ist das mitunter zu viel: "Auf Reggae-Festivals sind wir die Freaks. Die Rastas hauen immer ab, wenn wir spielen."
Die Offenheit kommt von der Vergangenheit als Straßenmusikanten. Dort haben sie gelernt, "flexibel zu sein" und was ankommt bei den Menschen. Das ist, sagt Pavlidis ganz offen, durchaus "Mitsing-Mucke". Und man lernt weiter dazu: Zwei Wochen vor dem Interview spielte das Quartett eben mal so auf dem Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain, also ungefähr da, wo man selbst wohnt. "Es war Sonntag, es war gutes Wetter", erzählt Pavlidis, "und alle hatten Lust." Einspielergebnis: Immerhin 200 Euro.
Das Berliner Idiom allerdings ist vorerst der Rundumerneuerung zum Opfer gefallen. "Das hat sich so ergeben", erklärt Pavlidis und zuckt die nackten Schultern, "aber schließlich werden wir auch im Süden gehört", und das Berlinerische wäre dafür verantwortlich, dass man "airplay eingebüßt" habe. Das sollte nun kein Problem mehr sein. Mit "Babylon bei Boot" dürften die Ohrbooten erfolgreich verhindert haben, als lokales Phänomen, als preußischer Hans Söllner zu enden. Stattdessen haben sie eine Platte eingespielt, die an der Straßenecke ebenso funktioniert wie in der Strandbar. Der Sommer kann also kommen, aber vorher kommt erst einmal die Bedienung mit der Apfelschorle. Und der dringenden Bitte, sich doch "was drüber zu ziehen". Missmutig schlüpft Ben Pavlidis wieder in sein T-Shirt. Noch haben nicht alle Berliner die Sache mit dem Reggae begriffen, aber die Ohrbooten arbeiten dran.
Ohrbooten: "Babylon bei Boot" (JKP/ Warner), Festivals: 22. 6. Southside Neuhausen ob Eck, 24. 6. Hurricane Scheesel, 29. 6. Fusion Lärz, 8. 7. Summerjam Köln, 14. 7. Popdeurope Berlin, 21. 7. Das Fest Karlsruhe, 3. 8. Kiel, 4. 8. Bremen, 19. 8. Chiemsee Reggae Summer, 24. 8. Püttlingen
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