■ Deutscher Außenpolitik fehlt nach 1989 die Kontur: Der vormaligen Käseglocke enthoben, folgt der Höhenflug: Dabeisein ist alles
Nicht nur deutsche Menschenleben, sondern auch manche Aspekte der deutschen Außen- und Innenpolitik hängen gegenwärtig davon ab, ob die in Somalia stationierten Kampfeinheiten der Bundeswehr, die sich – ein einmaliger Fall in der Militärgeschichte – nur humanitär betätigen dürfen und bei dieser Tätigkeit durch Kampfeinheiten anderer Staaten beschützt werden, selbst in Kampfhandlungen verwickelt werden oder nicht. Die Zufälligkeit der Somalia-Lage ist Metapher der neuen deutschen weltpolitischen Ambitionen.
„Wie war in Bonn es doch vordem mit Nato und EG bequem“, könnte heute der Heinzelmännchen-Dichter Kopisch reimen. Fast ein halbes Jahrhundert hatten sich die Westdeutschen unter der fünffachen Käseglocke von Besatzungsrecht, EG, Nato, Teilhabe am Westblock und Rücksichtnahme auf den Ostblock mit einer für einen Staat von der Potenz der Bundesrepublik bemerkenswerten außenpolitischen Bescheidenheit gemütlich eingerichtet.
Die dem Verschwinden der Käseglocke folgende große Verunsicherung führte zu einer eigenartigen Sehnsucht nach außenpolitischer „Normalität“. Aber was war für Deutschland das Normale, was kann heute das Normale sein? Früher das Kaiserreich, Weimar, Hitler? Welche dieser Normalitäten möchte man sich zurückwünschen? Das Kaiserreich währte am längsten, aber nur wenig länger als die bundesrepublikanische Normalität der Westdeutschen und die kommunistische der Ostdeutschen zwischen deutscher Kapitulation und deutscher Einheit. Deutschland war im Sinne der heutigen Sehnsucht nie wirklich normal, nie eine Weltmacht, immer eine europäische Großmacht, für die Welt zu klein und zu lächerlich, für Europa zu groß und zu gefährlich. Und heute?
Leider führten Verunsicherung und Sehnsucht nicht zu dem, angesichts der radikal veränderten europäischen und Weltlage notwendigen, neuen konzeptionellen Denken in der deutschen Außenpolitik. Sie bewirkte nur ein hektisches Handeln ohne Orientierung über die bisherigen politischen und geographischen Grenzen hinaus in die weite Welt hinein. Die deutsche Außenpolitik gleicht in ihrem Streben nach weltpolitischer Teilhabe derzeit einem Schiff ohne Kompaß, dessen Kapitän „Volle Fahrt voraus“ angeordnet hat. Gleichgültig wohin, überall ist Meer. Die unter der Käseglocke entwickelte kleinbürgerliche Zufriedenheit des Wir-sind-wieder- wer eines Ludwig Erhard ist der provinziellen Ungeduld des Wir- wollen-endlich-wer-sein eines Helmut Kohl gewichen. Der gemeinsame Nenner deutscher Außenpolitik lautet heute? Nichts wie ran, am besten militärisch. Bundeswehr nach Übersee? Wo kann sie hin? Nichts wie los!
Hektik und Breite des Aktionismus stehen in merkwürdigem Gegensatz zur geringen Besonnenheit und Tiefe der Beratungen und Beschlußfassungen der Bonner Regierenden und der Diskussion zwischen dem Kanzlerwahlverein CDU/CSU und dem Debattierklub SPD. Der Streit um den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Nato-Gebietes („out of area“) dreht sich nur darum, was man nach der Verfassungslage darf oder nicht darf. Und es gilt offenbar als selbstverständlich, daß man das, was man darf, dann auch tut. Eine außenpolitische Begründung, warum man es tun will, wird nicht benötigt. Statt dessen bemüht man eine fälschlich als „neue deutsche Verantwortung“ deklarierte Verpflichtung zu Sekundärtugenden. „Bündnistreue“, „Bündnisfähigkeit“ und „Berechenbarkeit“ müßten bewiesen werden. Obwohl nach der Vertragslage des Nato- Bündnisses alle Treue und Fähigkeit unverändert an den Grenzen des Nato-Territoriums ihr Ende finden. Und „Berechenbarkeit“ droht mehr und mehr zum Synonym für kritiklose Verfügbarkeit für eine an anderer Stelle konzipierte Großmachtpolitik zu degenerieren. Vor allem aber sorgt man sich mit der pubertären Ehrpusseligkeit von Neureichen um das deutsche Ansehen, das Schaden nehmen könnte, wenn nicht genügend deutsche Soldaten in der weiten Welt eingesetzt würden und man unter den Verdacht geriete zu „kneifen“.
Die heutige deutsche Außenpolitik gibt zu viele Antworten, ohne vorher Fragen gestellt zu haben. Der CSU-Vorsitzende Waigel hat natürlich recht, wenn er darauf hinweist, daß „die Definition des UNO-Auftrages in Somalia nicht Aufgabe des deutschen Kontingents in Somalia“ sei. Nur: Wer kümmert sich in Bonn um Definitionen? Etwa um Fragen wie diese (kleine Auswahl): Was ist genau das Ziel der „Befriedung“ Somalias, nachdem das ursprüngliche Ziel für das spontane Eingreifen der USA, der innenpolitische Befreiungsschlag für Präsident Clinton, abgehakt ist und die Masse der amerikanischen Truppen ebenso schnell wieder abgezogen worden ist, wie sie entsandt worden war? Kann das Ziel nur mit militärischen Mitteln erreicht werden? Warum muß der „Bandenführer“ Aidid, der schließlich Somalia von dem Diktator Barre befreit hat, bekämpft werden, warum mehr als beispielsweise der in Liberia seit Jahr und Tag mordende „Rebellenführer“ Taylor? Hat Bonn eine Afrikapolitik, die über Reaktionen von Tagesschau zu Tagesschau hinausgeht? Hat es eine UNO-Politik, die über den Drang zum militärischen Dabeisein hinausgeht, die dem hohen Anspruch dieser „neuen Verantwortung“ gerecht wird? Hat Bonn zum Beispiel eine klare Position zu der in der UNO- Charta vorgesehenen, vom UNO- Generalsekretär eingeforderten, von den westlichen Großmächten aber abgelehnten Aufstellung einer eigenen UNO-Sicherheitstruppe (deren Vorteile durch Somalia erneut deutlich werden)? Usw. usw.
Natürlich hat das erratische militärische Vordringen in weltpolitische Dimensionen bei allen außenpolitischen Unzulänglichkeiten schon Methode. Es soll den weltweiten Einsatz der Bundeswehr zu einem im In- und Ausland als selbstverständlich empfundenen Teil einer neuen deutschen Normalität machen, einen Einsatz mit dem Feigenblatt „im Einvernehmen mit der UNO“ (Rühe), versteht sich. Aber wenn das dann geschafft ist: Wofür, für welche Politik, für welche weltpolitischen Ziele Deutschlands, seien sie auch noch so klein? Die Antwort wird dringlich. Denn „Deutschland“, so sieht es der germanophile französische Publizist Daniel Vernet in seinem letzten Buch („Was wird aus Deutschland?“) richtig, „beunruhigt, weil man nicht weiß, wohin es steuert, und weil es dies selbst auch nicht weiß“. Hans Arnold
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