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■ Deutsche Wehrpflichtige werden nach der Militärreform Chiracs noch weniger einsehen, warum sie zum Bund müssenAbrüstung auf französisch

Präsident Chirac hat die seit längerem erwartete Umstrukturierung der französischen Streitkräfte nunmehr eingeleitet. Das Ausmaß der Kürzungen ist größer als erwartet. Die traditionsreiche Armee, das Landheer, wird von 241.000 SoldatInnen (darunter 8.600 Frauen) auf die Hälfte reduziert und in eine Streitmacht von Berufssoldaten umgewandelt.

In der Einführung der Berufsarmee liegt die eigentliche Sensation. Eine Reduktion der Kopfstärke hat das Heer aus Kostengründen schon in der Vergangenheit wiederholt hinnehmen müssen. Die Wehrpflicht aber, die Beteiligung der Bürger an der Landesverteidigung, ist unmittelbar mit dem Mythos der Französischen Revolution verknüpft – hat doch angeblich die levée en masse, der Haufe bewaffneter Bürger, die Republik verteidigt. Die Aufgabe der militärischen Dienstpflicht ist somit eine drastische Abkehr von bislang beschworenen Leitbildern.

Die Folgen für den deutschen Streit um die Zukunft des Wehrdienstes dürften erheblich sein. Kanzler Kohl hatte nach der Wiedervereinigung die Debatte auf die zweite Hälfte der neunziger Jahre verschieben wollen. Die Entscheidung des französischen Präsidenten zwingt dem Kanzler nun eine nicht gewünschte Debatte auf. Denn die Wehrpflichtigen werden noch weniger als zuvor einsehen, warum sie zum Bund müssen, wenn in allen vergleichbaren europäischen Ländern wie Frankreich und England der Militärdienst abgeschafft ist.

Die Finanzpolitiker spüren zudem einen ähnlichen Druck der Militärausgaben auf den Bundeshaushalt, wie er als Motiv für den Wandel in Frankreich angegeben wird. „Wehrgerechtigkeit“, die Sorge Konservativer um eine möglichst gleichmäßige Rekrutierung aller tauglichen jungen Männer, gibt es in Deutschland ohnehin längst nicht mehr.

Auch die neue französische Alternative zum Militärdienst, der Zivildienst in verschiedenen Bereichen, wird die innenpolitische Debatte in Deutschland erheblich beeinflussen. Angesichts der Finanzierungsprobleme im Pflegebereich gibt es auch hierzulande Stimmen, die nach einer umfassenden Rekrutierung junger Leute für Sozialdienste verlangen. Jugendpolitisch wäre zu streiten, ob Zwangsarbeit der einen Art (für das Militär) künftig ohne weiteres in Zwangsarbeit einer anderen Art (um den Pflegeetat zu sanieren) umzuwandeln ist.

Sicherheitspolitisch ist der französische Schritt aus zwei Gründen bedenklich. Die Professionalisierung der französischen Streitkräfte soll zu einer Truppe für rasches Zuschlagen führen, besondes außerhalb Europas. Hier war den Franzosen in der Vergangenheit kein Mangel an Einsatzfreude vorzuwerfen. Die Brisanz künftiger französischer Einsätze – um militärtechnisch im Bilde zu bleiben – wird durch den Schritt Chiracs weiter gesteigert werden. Das dürfte den Hardlinern in der Bundeswehr-Generalität Auftrieb für ihr Begehren geben, auch die deutschen Streitkräfte in eine solche starke Truppe umzuwandeln. Die allgemeine Wehrpflicht, die Rede vom Staatsbürger in Uniform, paßt nicht weiter in das Leitbild einer modernen Zuschlagtruppe.

Zweitens bleibt die Aufwertung der französischen Atomwaffen besorgniserregend. Hier hat Chirac einigen Nebel versprüht. Auch das Atomwaffenarsenal soll ja beschränkt werden. So werden überraschend die taktischen Raketen vom Typ „Hadès“ abgeschafft (an Symbolmacherei ließen sich die Mächtigen Frankreichs in der Vergangenheit kaum übertreffen: Hades war in der griechischen Mythologie die Unterwelt, der Orkus für die Römer). Auch nimmt Frankreich Abschied von der sogenannten Triade, der Möglichkeit, nuklearen Horror zu Lande (Hadès), in der Luft (über Atombomber) oder zur See androhen zu können. Künftig wird es eine nukleare Vergeltungsdrohung nur mehr von U-Booten und ihren Raketen her geben. Aus Kostengründen hatte Großbritannien eine ebensolche Reduzierung seines Atomwaffenarsenals ohne großes Getöse schon unter Margaret Thatcher ausgeführt. Hier zieht Chirac lediglich nach.

Die Triade kann sich aus Kostengründen heute allein Amerika leisten. Erneut sind die Folgen für die deutsche Politik erheblich. Für die Verteidigungsplaner in Bonn war es immer schwierig gewesen, die Funktion der Hadès-Rakete zu akzeptieren. Diese wäre im Zweifelsfall ja auf dem Gebiet der Bundesrepublik detoniert. Alain Joxe, Politologe und Bruder von Mitterrands einstigem Verteidigungsminister Pierre Joxe, hat mit dem Auto die französischen Nuklearstellungen abgefahren und überall die gleiche Auskunft erhalten: Sehr wohl, die Kurzstreckenraketen waren bestimmt „pour l'Allemagne“ – um die Deutschen am französischen Atomstrick zu führen. Nunmehr gibt Chirac dieses Führungsmittel auf.

Die Konzentrierung der französischen Nuklearabschreckung auf U-Boote und deren Raketen wird die Attraktivität des Angebots, unter den französischen Atomschirm zu kriechen, in Bonn erhöhen. Denn dieses Element der Nuklear- Triade bleibt in der absurden Logik der Sicherheitspolitiker das entscheidende Mittel, künftig glaubwürdig Abschreckung zu praktizieren. Nur ist im heutigen Europa völlig ungewiß, wer – gar mit Atomwaffen – von einer Aggression abgeschreckt werden muß.

Für die französische Rüstungsindustrie enthält die Botschaft von Präsident Chirac entscheidende Hinweise. Sie wird zurückgedreht. Der Staat, durch den Mund Chiracs, fordert eben nur einen Luftfahrtkonzern, und ein gleiches gilt für Kriegsschiffswerften und die Erzeuger von Ausrüstungen für das Landheer. (Der führende Panzerbauer, die staatliche GIAT, befindet sich in einer eigenen Krise.)

Den Konservativen um Chirac ist aus Haushaltsgründen nunmehr kein Rüstungsprojekt unantastbar. Zwei der drei Dimensionen der Nuklearstreitmacht werden eingekürzt, die Wehrpflicht der Bürger wird aufgegeben. Man fragt sich, welche vergleichbaren Schritte die Bonner Rüstungspolitik vorzulegen vermag. Zumindest in der Frage, ob die sogenannte Wehrpflicht fortgeschrieben wird, steht eine zeitgemäße Antwort Bonns aus. Um die aber wird man sich nicht länger drücken können.

Will man Chirac mit dessen Konzepten der bürgerfernen High-Tech-Armee folgen, die weltweit einsetzbar ist, oder soll die Bundeswehr eine (was immer das ist) bürgernahe Armee bleiben? Die Antwort auf diese Frage erzwingt der französische Präsident mit seinen Ankündigungen. Ulrich Albrecht

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