Deutsch-französische Freundschaft: „Die Toilette Europas“
Den Franzosen erscheint es deutsch, den Deutschen französisch: Das Elsass. Viele Bewohner sehen ihre doppelte Kultur heute positiv.
MULHOUSE taz | „Haben alle ihre Mathehefte rausgeholt?“, ruft Laetitia Blaison und blickt streng in die Klasse. „Amélie, Lazar, Alban! Hört auf zu quatschen!“ Die Elfjährigen kramen in ihren Schulranzen, die mit rosa Ponys oder japanischen Mangafiguren verziert sind. „Heute machen wir mit Brüchen weiter“, sagt die resolute junge Lehrerin. „Punaise!“, schimpft einer ihrer Schüler und blättert widerwillig in seinem Heft.
Es ist eine ganz normale Klasse, die sich in der nächsten halben Stunde mit Nennern und Zählern, dem Addieren und Multiplizieren von Brüchen beschäftigen wird. Auffällig ist bloß, dass die Lehrerin mit ihren Schülern Deutsch spricht und die Schüler untereinander überwiegend Französisch reden. Wenn Sie aufgerufen werden, antworten sie auf Deutsch.
„Wir nehmen diesen Bruch, und dann müssen wir da Zähler und Nenner tauschen“, erklärt ein Junge an der Tafel etwas holprig. Dabei ist er eher auf das mathematische Problem konzentriert als auf die richtige Wortwahl.
Das Fundament: Manche hielten den Élysée-Vertrag für eine Totgeburt, doch er erwies sich als solides Fundament der deutsch-französischen Freundschaft: Am 22. Januar 1963 unterzeichneten der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Präsident Charles de Gaulle den Vertrag, der die "Erbfeindschaft" beider Länder beenden sollte. Die deutsche Urschrift ist mit Schreibmaschine abgefasst und wird von einem schwarz-rot-goldgelben Bändchen zusammengehalten.
Der Text: Erstaunlich nüchtern verpflichtet er beide Regierungen zu regelmäßigen Konsultationen und legt den Grundstein für das Deutsch-Französische Jugendwerk, das seitdem etwa 8 Millionen Jugendlichen einen Aufenthalt im Nachbarland ermöglicht hat. Der Bundestag ergänzte den Vertrag um eine Präambel, die fundamentalen Zielen de Gaulles - etwa der Emanzipation von den USA - widersprach. Der deutsch-französischen Freundschaft hat dies keinen Abbruch getan. (uk)
Laetitia Blaison leitet die ABCM-Schule im elsässischen Mulhouse, eine der ersten Schulen, die seit Anfang der 1990er Jahre in der Grenzregion zwischen Frankreich und Deutschland zweisprachigen Unterricht anbieten. Es war nicht leicht, die Behörden dafür zu gewinnen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die deutsche Sprache in der Region verpönt. Heute besinnen sich mehr und mehr Elsässer auf die Vorteile der Zweisprachigkeit.
„Die Toilette Europas“
Die Region zwischen Schwarzwald und Vogesen hatte es nie leicht mit ihrer Identität – und mit ihren Sprachen. Am Ende des Mittelalters war das Elsass deutsch geprägt. Straßburg hatte sich zu einem bedeutenden Zentrum des Buchdrucks entwickelt. 1609 erschien in Straßburg die erste gedruckte Zeitung auf Deutsch. Die Reformation Martin Luthers und die deutschsprachigen Bibellesungen verbreiteten sich schnell im Elsass.“
Während des Dreißigjährigen Krieges wandte sich das Elsass dann zunehmend Frankreich zu. Die Französische Revolution verstärkte diese Tendenz. Die französische Nationalhymne wurde in Straßburg verfasst. Selbst Napoleon Bonaparte störte es wenig, dass seine elsässischen Offiziere kein Französisch sprachen: „Sollen sie ruhig Deutsch reden, Hauptsache, sie führen den Säbel wie Franzosen.“
Der elsässische Künstler Tomi Ungerer nannte seine Heimat einmal die „Toilette Europas“. Immer sei es besetzt. Tatsächlich wechselte das Elsass seit Ende des 19. Jahrhunderts viermal die Staatszugehörigkeit: Nach der Niederlage Frankreichs 1870/71 fiel die Region an das Deutsche Reich. Am Ende des Ersten Weltkriegs gehörte sie zu Frankreich. 1940 annektierte Deutschland das Elsass, und seit 1944 ist es wieder französisch.
Heute sitzt das Elsass zwischen den Stühlen: den Franzosen erscheint es deutsch, den Deutschen französisch. Viele sehen die doppelte Kultur aber auch positiv: Das Elsass als Bindeglied zwischen Frankreich und Deutschland.
Komplizierte Geschichte
Aufgrund der komplizierten Geschichte gelten im Elsass heute zahlreiche Sonderregelungen. So wird etwa im Unterschied zum restlichen Frankreich an den Schulen Religion unterrichtet. Und es gibt eben auch Schulen, in denen die Hälfte des Unterrichts auf Deutsch stattfindet.
„Viele Elsässer bedauern heute, dass die Region ihre Zweisprachigkeit verliert“, sagt Karine Sarbacher, die ebenfalls an der ABCM-Schule in Mulhouse unterrichtet. „Sie wollen, dass ihre Kinder zweisprachig aufwachsen, nicht zuletzt, um ihnen später gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen.“
Während in Frankreich die Arbeitslosenquote derzeit bei etwa 10 Prozent liegt, gibt es jenseits der Grenze freie Stellen. In Baden-Württemberg oder in der Schweiz erwarten die Arbeitgeber, dass die Bewerber Deutsch sprechen. Ein Grund mehr, sich auf die historische Zweisprachigkeit zurückzubesinnen.
„Es waren unsere Feine“
In der Vorschulklasse von Esther Herzog-Coutellier herrscht lebhaftes Getümmel. Die Drei- bis Fünfjährigen kommen mit roten Backen und kalten Fingern vom verschneiten Pausenhof herein. „Charlène setzt sich neben Théodore. Jacques, du setzt dich hierhin.“ Die aus Freiburg stammende Lehrerin spricht in normaler Geschwindigkeit mit den Kindern. Die meisten von ihnen können bisher nur ein paar Worte Deutsch, verstehen aber schnell, was die Lehrerin von ihnen will.
„Wir machen keinen klassischen Sprachunterricht. Wir wollen, dass die Kinder die Sprache auf natürliche Weise erlernen, dass sie in ein Sprachbad eintauchen“, sagt Herzog-Coutellier. „Es ist wichtig, dass jede Bezugsperson in ihrer Sprache bleibt“, sagt sie. Deswegen habe jede Klasse eine frankofone und eine deutschsprachige Lehrerin. „Wenn mich ein Schüler auf Französisch anspricht, dann sage ich ’Wie bitte?‘ – und dann versucht er es noch mal auf Deutsch.“
Henri Goetschy, ehemaliger Präsident des Generalrats des Départements Haut-Rhin, zählt zu den langjährigen Förderern der zweisprachigen Schulen im Elsass. Der 86-Jährige erinnert sich noch gut an die Zeit, als seine Heimat 1940 von den Deutschen annektiert wurde. „Es waren unsere Feinde, obwohl sie dieselbe Sprache hatten wie wir“, sagt Goetschy, dessen Familie elsässischen Dialekt sprach.
Deutsche Beschimpfungen
„Mit dem Militär ging es noch. Schlimm wurde es, als die Partei kam“, erzählt der alte Herr. „Wir wurden gezwungen, in die Hitlerjugend einzutreten. Dort hat man uns vor allem beigebracht, blind zu gehorchen und uns anschreien zu lassen.“ Manche deutschen Beschimpfungen sind ihm bis heute im Gedächtnis geblieben: „Was stehst du herum wie ein in die Luft geschissenes Fragezeichen?“
Goetschy traf in dieser Zeit aber auch auf Deutsche, die nicht von der Ideologie der Nazis infiziert waren. „Als die Juden aus Altkirch deportiert wurden, kam unser deutscher Lehrer in die Klasse und sagte: ’Nach dem, was in Altkirch passiert ist, schäme ich mich, Deutscher zu sein. Ich bin nicht in der Lage, heute Unterricht zu machen.‘ “
Da die Deutschen das Elsass nicht nur – wie den nördlichen Teil Frankreichs – besetzten, sondern annektierten, wurden die jungen Männer auch zum Reichsarbeitsdienst herangezogen und von der Wehrmacht oder Waffen-SS rekrutiert.
Sie waren Befreier
„Malgré-nous“, wörtlich: gegen unseren Willen, nannten sich die Zwangsrekrutierten später selbst. Die meisten von ihnen wurden an der Ostfront eingesetzt. Von den etwa 130.000 Elsässern und Lothringern in der deutschen Armee kam etwa jeder Dritte ums Leben. Diejenigen, die in ihre Heimat zurückkehrten, trafen dort häufig auf Misstrauen, da man sie der Kollaboration mit den deutschen Nazis verdächtigte.
„Ich habe Kriegsabitur gemacht und bekam dann den Einberufungsbefehl“, erzählt Goetschy, der in seinen Erinnerungen häufig zwischen Französisch und Deutsch wechselt. Dem damals 18-Jährigen gelang jedoch die Flucht, er konnte sich drei Monate lang verstecken, bis die Franzosen schließlich das Elsass zurückeroberten.
„Die Franzosen kamen als unsere Befreier. Und dann haben sie als Erstes deutsche Zeitungen und deutschen Schulunterricht verboten“, erinnert sich Goetschy. „Das hat sich erst gebessert, als Europa allmählich zusammenwuchs.“
Der Krieg habe ihn zum überzeugten Europäer gemacht, sagt Goetschy, der sich in seiner politischen Laufbahn in der Region intensiv für die die deutsch-französische Freundschaft eingesetzt hat. „Man hat uns nach dem Krieg oft vorgeworfen, die Sprache des Feindes zu sprechen. Aber das ist doch Unsinn. Unsere Zweisprachigkeit ist ein riesiger Vorteil, den wir pflegen müssen“, meint er.
Heute gehen etwa sieben Prozent aller Grundschüler auf eine deutsch-französische Schule. Die Kleinen finden sich schnell in der Sprache zurecht, auch wenn ihre Eltern sie nicht sprechen. „Viele können aber plötzlich mit ihren Großeltern Deutsch reden. Und die sind sehr glücklich darüber“, sagt Lehrerin Karine Sarbacher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste