Derby Im ersten Aufeinandertreffen von Darmstadt 98 und der Frankfurter Eintracht seit 1982 gibt es keinen Favoriten. Dafür kriselt es bei der halbstarken Eintracht zu sehr: Lilien im Würgegriff
von Timo Reuter
Wie das eben so ist vor einem Derby: Für die Fans ist es das Spiel des Jahres, vor den Ticketschaltern bilden sich viele Hundert Meter lange Schlangen. Die Region steht Kopf. Die Spieler, die sich eigentlich auf das Sportliche konzentrieren sollen, können sich dem Trubel nicht entziehen. Doch das Bemerkenswerte am Aufeinandertreffen der Lokalrivalen aus Frankfurt und Darmstadt am frühen Sonntagabend ist etwas anderes – nämlich dass dieses Derby überhaupt wieder stattfindet, und zwar in der Beletage des deutschen Fußballs.
Denn kurz nach dem letzten Aufeinandertreffen in der Bundesliga im April 1982 stieg der SV Darmstadt 98 ab und verschwand später fast völlig in der Versenkung. Noch vor zweieinhalb Jahren war der Verein sportlich aus der dritten Liga abgestiegen, ausgerechnet der Lizenzentzug eines anderen Lokalrivalen, der Offenbacher Kickers, rettete den Klub. Was danach folgte, darf als mittelgroßes Fußballwunder bezeichnet werden: Der Underdog aus Südhessen feierte den sensationellen Durchmarsch bis in das Fußballoberhaus. Dabei sind die „Lilien“ stets Außenseiter geblieben: ein kleiner Verein mit noch kleinerem Etat und einem altehrwürdigen Stadion aus den 1920er-Jahren, in dem der Beton vor sich hin bröckelt.
Daran hat sich bisher nicht viel geändert, trotz des Abenteuers Bundesliga. Und so dürfen die großen etablierten Klubs, die am Böllenfalltor zu Gast sind, in den Genuss des ganz besonderen Charmes kommen, den im hochprofessionellen Fußballgeschäft sonst nur noch Amateurvereine versprühen.
Doch die Darmstädter begnügen sich nicht mit der Rolle des dankbaren Gastgebers. Zwar sind die spielerischen Mittel begrenzt, aber mit Leidenschaft, Einsatz und Disziplin sammelte das Team von Trainer Dirk Schuster bisher stolze 15 Punkte. Mitverantwortlich dafür sind mit Marcel Heller, Jan Rosenthal und Dominik Stroh-Engel gleich drei ausgemusterte Frankfurter Spieler, die in Darmstadt zu Leistungsträger herangewachsen sind. „Für mich sind Derbys die schönsten Spiele“, bekannte der fünffache Bundesliga-Torschütze Heller Mitte dieser Woche. Die Stimmung in Darmstadt ist also bestens.
Anders die Situation in Frankfurt. In der erfolgshungrigen Bankenmetropole hätten wohl nur echte Pessimisten vor der Saison geglaubt, dass die Eintracht nach 14 Spielen einen Punkt hinter dem Aufsteiger liegt. Nachdem Thomas Schaaf als Trainer Ende der vergangenen Spielzeit nach einer Medienkampagne geschasst wurde, hofften die Fans auf den einst gefeierten Armin Veh, der die Frankfurter vor gut zweieinhalb Jahren in den Europapokal führte, sich dann aber gegen die Eintracht entschied.
Als im Juni die Rückkehr des 54-Jährigen verkündet wurde, glaubten viele an einen Aufbruch zurück in eine bessere Zukunft. Doch der mutmaßliche Heilsbringer hatte den Erfolg nicht im Gepäck. Seiner Mannschaft fehlt der unbedingte Wille zum Sieg, sie spielt berechenbar und gerade in den letzten Wochen eher lethargisch – ganz anders als die kämpferischen „Lilien“. Und so ist die Eintracht, noch dazu von Verletzungspech geplagt, aus dem Traum Europapokal in der harten Realität des Abstiegskampfes erwacht. „Es wird eng bis zum Schluss“, sagte denn auch Armin Veh nach dem 1:2 am letzten Samstag beim Rhein-Main-Derby in Mainz. Diese Niederlage ärgerte viele mitgereiste Anhänger so sehr, dass sie demonstrativ ihre Unterstützung einstellten.
Sollte Veh das zweite Derby innerhalb von neun Tagen verlieren, könnte ihn das viel Kredit kosten. Dass einige Eintracht-Fans den Fußball zu ernst nehmen, haben sie vergangene Woche mit einer eher unschönen Aktion bewiesen. Auf Plakaten und Aufklebern war dort ein bulliger Mann im Eintracht-Trikot zu sehen, der eine Frau im Lilientrikot würgt. Die Staatsanwaltschaft leitete deshalb ein Ermittlungsverfahren ein, die Partie am Sonntag gilt als Risikospiel. Die Vereinsführung von Eintracht Frankfurt distanzierte sich ebenso wie Teile der Fanszene umgehend von diesem Versuch, das Derby zu einem Hassduell zu stilisieren.
Die Darmstädter Fans haben bisher betont gelassen auf die Provokation reagiert, nämlich gar nicht. Vielleicht interpretieren sie die Aktion ja auch ganz anders: Entgegen allen Erwartungen gibt es im erstes Derby beider Vereine seit 33 Jahren keinen Favoriten. Darmstadt 98 wird wieder ernst genommen. Blamieren kann sich am Nikolausabend trotzdem nur die Eintracht.
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