: „Der wahre Tag der Wende“
INTERVIEW NICK REIMER
taz: Herr Richter, die Öffentlichkeit nimmt den 9. November als „Wende“ wahr, nicht den 9. Oktober. Hat sie Recht?
Dr. Michael Richter: Nein. Alle wissenschaftlichen Arbeiten weisen die Maueröffnung nur als logische Konsequenz der Ereignisse des 9. Oktobers aus. Außerdem stimmt Ihre Einschätzung nicht. Die Mehrheit der interessierten ostdeutschen Öffentlichkeit verortet den Wendepunkt sehr wohl am 9. Oktober – und das wird an diesem Wochenende hier auch gefeiert. Aber es stimmt natürlich: Die Mauer war über Jahrzehnte das Symbol der politischen Unfreiheit. Ihre Öffnung lieferte – mehr noch als der 9. Oktober – beeindruckende Bilder.
Was war das Besondere an diesem 9. Oktober?
Im Mittelalter wurden Entscheidungen oft von sich gegenüberstehenden Heeren auf dem Schlachtfeld erzwungen. Für die DDR war quasi der 9. Oktober die Entscheidungsschlacht. Notwendig dafür war es, eine kritische Masse zusammenzubekommen. In den Unterlagen finden sich jede Menge Aufrufe von Leuten aus dem Vogtland, aus Freiberg, aus Thüringen: Bildet Fahrgemeinschaften! Kommt nach Leipzig! Die Menschen haben offenbar geahnt, dass es darum geht, die kritische Masse herzustellen. Wie auch auf Seiten des Staates: Die Dokumente der Militärführung belegen einen absoluten Entscheidungswillen.
In Dresden lief zu dieser Zeit aber schon ein Dialog.
Das stimmt. Aber dort hatte die Masse eben nicht die hinreichend kritische Größe. Vielleicht hätten die 10.000 Demonstranten lokale SED-Größen wie Berghofer oder Modrow zum Rückzug zwingen können, nicht aber Honeckers Clique. Erst in Leipzig kam die für den Sturz des Regimes kritische Masse zusammen. Lenin definierte Revolution einmal so: Die oben konnten nicht mehr so, wie sie wollten – die unten wollten nicht mehr so, wie sie sollten. Genau das war in Leipzig der Fall.
Lag es nur an der Masse, dass es nicht zu einem Blutbad kam?
Nicht nur, sondern auch an der Elitendifferenzierung innerhalb der SED. Selbst die Führung war schon zu sehr auseinander dividiert. Unsere Forschungen zeigen, dass auch unter den SED-Mitgliedern die Unzufriedenheit schon zu groß war, als dass man der Parteiführung blindlings folgte. Tatsächlich hatte die Führung ihre Rückbindung in die Partei teilweise verloren.
Dennoch: Vierzig Jahre hat sich die SED einen Machtapparat geschaffen, der in vier Wochen auseinander fiel.
Es gibt die These, das dieser Apparat buchstäblich implodiert ist. Die Planlosigkeit der Führung begann ja nicht erst mit Krenz. Es gibt zahlreiche Dokumente – etwa aus dem Frühjahr – in denen sich SED-Basisorganisationen fragen: Was machen die denn da oben eigentlich? Sie forderten Handlungsanleitungen, Hinweise, wie die Politik denn zu verstehen sei. In anderen Berichten beklagten sich Genossen über mangelnde Versorgung. Fakt ist: Der Machtapparat war in jenem Herbst ideologisch hochgradig delegitimiert. Politikwissenschaftler beschreiben vergleichbare Konflikte in Gesellschaften mit einem Dreieck von voice – in diesem Fall Protest, exit – hier: Flucht, und loyalty – hier: den Systemträgern. Dieses Dreieck hatte sich 1989 dramatisch verschoben. Durch die Massenflucht waren auch die betroffen, die bleiben wollten – schon weil beispielsweise ihr Arzt nicht mehr da war. Immer mehr erhoben ihre Stimme für Veränderungen. Die Gruppe, die dem System gegenüber loyal blieb, wurde immer kleiner und geriet in die Defensive.
Mit Egon Krenz an der Spitze wollte die SED tatsächlich Veränderungen einleiten. Hat Krenz handwerkliche Fehler gemacht?
Mit Handwerk war das nicht mehr hinzukriegen. Krenz versuchte nicht ganz ungeschickt, Machterhalt zu betreiben. Allein: Die Machtfülle, die ihm seit der Entscheidungsschlacht am 9. Oktober noch verblieben war, reichte nicht mehr.
Immerhin kam es zum Dialog mit der Opposition.
Die SED versuchte den Dialog dazu zu nutzen, die Demonstrierenden – und das waren ja längst nicht alle DDR-Bürger – zu domestizieren. Ihre Idee war, die Proteste von der Straße in Räume zu bringen, und damit unter Kontrolle. Für die Opposition wiederum war der Dialog eine Form des Kampfes – er diente in erster Linie dem Ziel, die SED zu delegitimieren. Anfang November musste sich die SED dann tatsächlich eingestehen: Der Dialog nützt uns nicht, sondern schadet uns nur.
War die Maueröffnung eine Kapitulationserklärung?
Die Art und Weise, wie sie umgesetzt wurde, war sicherlich eine Bankrotterklärung des politisch handelnden Personals. Schließlich galt an der Mauer nach wie vor der Schießbefehl, den die SED selbst ausgegeben hatte. Eine Alternative zur Grenzöffnung hatte die SED allerdings nicht. Die Bevölkerung war seit dem 9. Oktober derart selbstbewusst geworden, dass keine andere Regelung akzeptiert worden wäre. Es gab ja Ende Oktober einen ersten Entwurf für ein Reisegesetz. Den haben die Leute einfach wegdemonstriert. Auch der zweite Entwurf hatte keinen Bestand.
Hans Modrow galt vielen als der Gorbatschow der DDR. Wäre die Entwicklung anders verlaufen, wenn anstatt des Wahlfälschers Krenz er die Staatsführung übernommen hätte?
Modrow hätte allenfalls etwas Zeit gewinnen können. Er hatte auch zu schwierigen Zeiten schon Fragen nach einer Modernisierung der sozialistischen Gesellschaft gestellt. Das verschaffte ihm eine gewisse Akzeptanz. Als Anfang 1990 aber die entscheidende Frage nach dem „Wie soll es weitergehen?“ gestellt wurde, hatte auch er keine Antworten. Modrows Modell war das eines demokratischen Sozialismus, wobei dieser Begriff nicht richtig durchdefiniert war. Modrow konnte deutlich nur anbieten, was er nicht wollte: Kapitalismus. Deshalb wollte er auch nur jene neuen Kräfte in die demokratische Gestaltung einbeziehen, die eine sozialistische Zukunft verfolgten.
Es wird immer wieder über die Rolle der Sowjetunion bei den Herbstereignissen debattiert. Wie groß war sie tatsächlich?
Entscheidend. Die DDR war ein zänkischer Zwergstaat am Rande des Sowjetimperiums. Dort konnte nur passieren, was Moskau genehmigte. Die Breschnew-Doktrinen besagten: Wenn jemand aus dem sozialistischen Lager auszubrechen versucht, marschieren wir ein. Diese Doktrinen wurden Ende der 80er-Jahre aufgehoben, was Ungarn und Polen sofort nutzten. Honecker dagegen blieb stur. Statt Änderungen einzuleiten, verbot er etwa den Sputnik – ein sowjetisches Druckerzeugnis, das über Änderungen schrieb. Diese Sturheit setzte Honecker unter enormen innerparteilichen Druck. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“, zitierten führende Genossen. Schon da begann die Ausdifferenzierung innerhalb der SED.
Wie wurde in der sowjetischen Politik aus „Änderungen“ das Ende der DDR?
Vieles hängt an der Person Gorbatschow. In seiner Umgebung gab es zwei Positionen: Valentin Falin, Exbotschafter in der Bundesrepublik, stand für eine Gruppe mit der Position „Reformen bei Erhalt der Zweistaatlichkeit“. Die Gruppe um den außenpolitischen Berater Wjatscheslaw Daschitschew hielt es für möglich, dass eine Wiedervereinigung für die Sowjetunion unter Umständen günstiger wäre.
So? Unter welchen denn?
Es gab zwei ganz pragmatische. Erstens hätte die wirtschaftlich angeschlagene Sowjetunion eine erneuerte DDR massiv wirtschaftlich unterstützen müssen. Im Falle einer Wiedervereinigung aber konnte das selbst klamme Land mit ein paar Milliarden Unterstützung rechnen. Der zweite Grund: das Volk der DDR. Anfang 1990 gab es keine vernünftige Idee, wie man den Massenexodus hätte verhindern können. Gorbatschow hatte lange an der Falin-Position festgehalten, ist dann aber umgeschwenkt. Völlig zu Recht wird er hierzulande als Held gefeiert, während er zu Hause als Verräter geächtet ist.
Bis Mitte der 90er-Jahre ist immer wieder über die Chance eines Dritten Weges debattiert worden. Mal angenommen, Honecker hätte schon drei Jahre früher abtreten müssen: Wäre ein solcher möglich gewesen?
Wenn sich die Falin-Position durchgesetzt hätte, sicherlich. Aber auch dieser Dritte Weg sozialistischer Prägung wäre mit Restriktionen verbunden gewesen, um andere Entwicklungen zu unterdrücken. Die Bürgerrechtsbewegungen im Herbst 89 verstanden unter „Drittem Weg“ etwas anderes: Eine basisdemokratische Bürgergesellschaft mit freiheitlichen Strukturen und modernen Foren für Demokratie, auch wenn sie dies oft Sozialismus nannte.
Die Sowjets sind schuld, dass daraus nichts wurde?
Nur bedingt. Der Bürgerbewegung fehlten überzeugende Angebote. Während sie nur die Überwindung des Systems anboten, offerierten die bundesdeutschen Parteien mit ihren Ostablegern gleich die Beseitigung des ganzen Staates. Das hat die Entwicklung Anfang 1990 radikalisiert. Während die Bürgerbewegung nach alternativen, teils moderneren Demokratieformen als in der Bundesrepublik suchte, versprach der Bundeskanzler blühende Landschaften.
15 Jahre später erscheint die deutsch-deutsche Depression größer denn je. Woran liegt das?
Für den Osten gilt ein berühmter Satz von Václav Havel: Die Wirklichkeit auf der anderen Seite der Mauer war unsere konkrete Utopie. Den Westen holte die Revolution der DDR erst zehn Jahre später ein: Die Reformen, die die SPD jetzt eingeleitet hat, waren damals schon notwendig. Innerhalb der CDU haben Erneuerer wie Lothar Späth das seinerzeit zwar gesehen, konnten sich aber nicht durchsetzen. Insofern krankt das Land heute an jenem Reformstau, den die alte Bundesrepublik mit ins vereinte Deutschland gebracht hat.