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Archiv-Artikel

Der verfälschte Sport

ENTFREMDETER FUSSBALL Der moderne Fußball ist nicht mehr unser Fußball, sagt der Brite Matthew Bazell, die Identität von Großklubs lässt sich nicht einfach so auslöschen, der Amerikaner Dave Zirin

Symptom des Niedergangs: Sogenannte Fans, die in die Kamera winken

Das hat nichts mehr mit Fußball zu tun: Menschen, die bei der Fußball-WM in die Kamera grinsen, weil sie sich gerade auf dem Stadionbildschirm entdeckt haben. Die winkenden Fernsehmännchen und -weibchen sind ein Symptom des modernen Fußballs, von dem zwei neue Bücher handeln. Warum das alles ganz schlecht ist, erklärt der englische Fußball-, genauer: Arsenal-Fan Matthew Bazell in „The People’s Game?“ (nicht vom englischen Titel irritieren lassen – das Buch ist eine deutsche Ausgabe, und dass der Originaltitel mit „Theatre of Silence“ wiederum ganz anders lautet, ist halt so).

Woher solche Veränderungen kommen, sowohl in den großen amerikanischen Sportarten, aber auch im englischen Fußball, erläutert Dave Zirin in „Bad Sports“ (und dieses Buch ist nun wirklich nur auf Englisch zu haben). Bazell schimpft mit Leidenschaft: auf die Stille im Stadion, wo früher engagierte und sehr kreative Gesänge zu hören waren; auf die hohen Eintrittspreise bei gleich bleibender Miesbehandlung der Kunden; auf die immer ähnlicher werdende Stadionästhetik; auf die Oligarchen, die sich Vereine kaufen; auf die Einzug haltende Unkultur der Schwalben und des Rot-für-den-Gegner-Forderns. Er liebt den Fußball, der vor Männern gespielt wurde, die ihn stehend, Bier trinkend und viel schimpfend bei jedem Wetter, jedem Tabellenstand und jeder Ligazugehörigkeit konsumierten. Er argumentiert moralisch, und weil er nicht weiß, wie er den Clubbesitzern sonst beikommen soll, plädiert er für den Boykott: Fans, lasst vom Fußball ab! Der moderne Fußball ist nicht mehr euer Fußball!

Dave Zirin hingegen, ein amerikanischer Sportjournalist, politisch in der radikalen Linken zu verorten, liebt den Widerstand, den er auch im Profisport findet. Der FC Liverpool etwa, um sein Fußballbeispiel aufzugreifen, erscheint ihm „sozialistisch“. Das liegt zum Teil am legendären Sechziger-Jahre-Coach Bill Shankly, der sich als Sozialist verstand. Zum anderen meint Zirin, dass die Fans dort etwas zu sagen hätten. Es ist eine Art kultureller Besitz, der ihm auch nicht gefährdet scheint durch die 2007 erfolgte Übernahme des Clubs durch die zwei US-Geschäftsleute Gillett und Hicks und die aktuellen Turbulenzen nach dem Abgang der beiden; kurzzeitig in den Händen der Royal Bank of Scotland befindlich, wollen nun die Eigner der Boston Red Sox den FC kaufen. Die Fans haben ihre eigene Meinung dazu: „Sie werden vielleicht Besitzer des Liverpool FC“, zitiert er einen Fan, „aber sie werden ihn nie besitzen.“ Zirin, der wie kein anderer den Sport und die gut bezahlten Profisportler in die sozialen Kämpfe unserer Zeit eingereiht sieht, zeigt auf, wie in Liverpool, anders als etwa bei Manchester United, gegen dessen Übernahme durch einen US-Milliardär es massive Proteste gab, ein leiser, aber wie er findet: erfolgreicher Widerstand stattfindet: Wenn etwa Tom Hicks jr., Sohn des Ex-Besitzers, ganz ernsthaft von „konstruktiven Gesprächen“ mit Fans berichtete, obwohl er Bier über den Kopf geschüttet bekam und angespuckt wurde.

Während man Bazells Buch neben seinen zu oft ins Amerikaphobe abgleitenden Tiraden vorwerfen muss, dass er zu detailliert im englischen Fußball verweilt, ist man bei Zirin, der sich vor allem mit den großen US-Sportarten und ihren Clubbesitzern beschäftigt, nur über seine manchmal zu nonchalante Art irritiert, etwa wenn er die Heyssel- und Hillsborough-Katastrophen von 1985 und 1989 in Zusammenhang mit Riots im Jahr 1981 bringt. Trotz solcher Einwände bringen beide Werke, was man in Deutschland oft schmerzlich vermisst: eine ernsthafte, von Respekt getragene Auseinandersetzung mit dem modernen Sport, die zeigt, was der Sport über die Gesellschaft lehrt: So wie aus Eckkneipen Latte-Cafés geworden sind, so wurden aus Stehplatztribünen proletarischer Öffentlichkeit die bequemen Sitzplätze von Leuten, die in die Kamera winken.

MARTIN KRAUSS

Matthew Bazell: „The People’s game? Ein Buch gegen den modernen Fußball“. Trolsen, Quickborn 2010. 240 Seiten, 12,90 Euro

Dave Zirin: „Bad Sports. How Owners Are Ruining the Games We Love.“ Scribner, NY/London/Toronto/Sydney 2010. 240 S., ca. 20,99 Euro