piwik no script img

taz FUTURZWEI

Der taz-FUTURZWEI-Kommentar Europa jetzt!

Gerade weil die Populisten und Nationalisten immer stärker werden, muss die nächste Bundesregierung Europa zügig ausbauen. Auf die SPD kann man dabei nicht setzen.

Udo Knapp sieht Europa als Antwort auf wachsenden Nationalismus Foto: picture alliance/dpa/Sven Hoppe

taz FUTURZWEI | Es gibt allen Grund, sich darauf zu besinnen, dass der Mythos von der Entführung der Prinzessin Europa durch Zeus die geistige Wiege der erfolgreichen westlichen Zivilisation ist. Eurozentrismus wird heute wie ein zerknirschtes Schimpfwort gebraucht, ist aber die historische und strategische Grundlage aller freiheitlicher Demokratien des Westens. Europa hat sich durch alle Wirren der Geschichte in diesen historischen Bezügen immer wieder gefunden.

DIE ENTWICKLUNG DER EU ZU SOUVERÄNER STAATLICHKEIT IST ZU EINER ÜBERLEBENSFRAGE ALLER FREIHEITLICHEN DEMOKRATIEN IN EUROPA GEWORDEN.

Nach den Verbrechen der deutschen Nazis hat Europa nach 1945 jenseits der Nationalstaaten mit immer weiter vertieften supranationalen Strukturen in der EU einen eigenen politischen Handlungsrahmen geschaffen. Europa als Staat mit einer Verfassung, europäische Souveränität mit eigener Staatsgewalt und einem europäischen Staatsvolk könnte der großen Geschichte Europas ein neues Kapitel anfügen. Dieser Staat Europa ist allerdings bis heute unvollendet geblieben.

Der letzte Versuch ist 2004 an knappen Ablehnungen der Ratifizierung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Mit dem Lissabon-Vertrag von 2009 ist daher das allmähliche Erweitern europäischer Souveränität durch freiwilligen Verzicht auf Zuständigkeiten in den Mitgliedsländern zwar weitergegangen, aber nur mäandernd. Vor dem Hintergrund des russischen Eroberungskrieges gegen die Ukraine und dem Aufstieg populistischer, antidemokratischer Strömungen in allen westlichen Ländern ist nun aber die Entwicklung der EU zu souveräner Staatlichkeit zu einer Überlebensfrage aller freiheitlichen Demokratien in Europa geworden. Keiner der europäischen Großen und schon gar nicht die 26 kleineren EU-Mitglieder sind in der Lage, sich allein gegen die aktuellen äußeren und inneren Bedrohungen zu behaupten. Nur eine europäische Souveränität kann auf Dauer die Selbstbehauptung ihrer Mitgliedsstaaten garantieren.

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI – das Magazin, Ausgabe N°30: Wer ist das Volk? – Und warum ist Rechtspopulismus so populär?

Warum der Rechtspopulismus global und in Ostdeutschland so erfolgreich ist, können wir analysieren. Wie man ihn bremsen kann, ist unklar.

Diesmal im Heft: Jens Balzer, Ines Geipel, Jagoda Marini , Maja Göpel, Aladin El-Mafaalani, Thomas Krüger, Yevgenia Belorusets, Danyal Bayaz und Harald Welzer. Veröffentlichungsdatum: 10. September 2024.

Jetzt im taz Shop bestellen

Nationale Interessen bestimmen die deutsche Europapolitik

Diese Tatsache ist in der deutschen Politik nicht handlungsleitend. Helmut Kohl (CDU) war der letzte deutsche Europäer, der gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Francois Mitterand Europa als quasistaatliche Institution vorangebracht hat. Seither bestimmen nationale Interessen die Europapolitik aller seiner Nachfolger. Frankreichs Präsident Macron haben sie nach seiner großen Europarede in Straßburg 2017 geflissentlich überhört, als er diesen gemeinsamen Aufbau eines souveränen Europas vorschlagen hat.

Vom aktuellen Kanzler Scholz ist keine Politik zu vermelden, die europäische Souveränität vertiefen würde. Im Gegenteil, er hat die FDP immer wieder gewähren lassen, wenn sie ihr Vetorecht in der Bundesregierung als deutsches Vetorecht in Brüssel missbraucht hat, um EU-Fortschritte auszubremsen. Zuletzt im Februar 2024 beim bereits ausverhandelten Lieferkettengesetz.

Dabei ist es seit dem Ukrainekrieg und nach Trumps Wiederwahl dringend geboten, europäische Staatlichkeit und Verteidigungsfähigkeit herzustellen. Dazu gehören der Aufbau einer gemeinsamen EU-Armee innerhalb der Nato. Dazu gehört der Aufbau eines gemeinsamen europäischen Rüstungskonzerns, der Forschung, Entwicklung und Ausrüstung dieser EU-Armee auf einen gleichen, kampffähigen Standard bringen könnte und durch Zentralisierung die Kosten für alle senken würde. Der europäische Airbus-Hersteller ist ein Beispiel für den Erfolg eines solchen Weges. Er ist heute neben dem taumelnden Boing-Konzern in den USA der wichtigste Flugzeugbauer der Welt.

Zu einem starken Europa gehört auch eine Kapitalmarkt-Union. Für das fossilfreie Produzieren und gleichzeitig die Sicherung der Exportkraft aller europäischen Industrien wäre ein einheitlicher und grenzübergreifender Zugang zu allen Finanzinstituten am europäischen Kapitalmarkt ein europäischer Standortvorteil.

Europa als Antwort auf wachsenden Nationalismus

In der Klimapolitik hat die EU schon Maßstäbe gesetzt. Der Green Deal gibt Strategien und Transformationspfade vor, wie Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden kann. Auch das Zulassungsende für Verbrenner bis 2035 ist eine Vorgabe, mit der sich die europäische Autoindustrie zukunftsfest und international wettbewerbsfähig aufstellen kann, auch wenn die Folgen des Umbaus vor Ort schmerzhafte Kollateralschäden verursachen.

Über supranationale Sachpolitik hinaus braucht es Initiativen, die den stillstehenden Prozess des Aufbaus europäischer Souveränität und Staatlichkeit wieder in Gang setzen, etwa die zügige Wiederaufnahme des europäischen Verfassungsprozesses mit der Einberufung eines Verfassungskonvents. Auch eine vertraglich beschlossene Gewährung einer europäischen Steuerhoheit, kontrolliert durch das EU-Parlament, könnte ein wichtiger Schritt in eine gemeinsame staatliche Zukunft werden.

Eine solche offensive Europapolitik gerade jetzt einzuschlagen, wo Populisten und rechtsradikale Nationalisten im Europaparlament stärker als je zuvor vertreten sind, mag verwegen klingen. Aber gerade deren Ansage, die EU zu einer reinen Wirtschafts- oder Zollunion zurückbauen zu wollen, verlangt als Antwort die beschleunigte Herstellung europäischer Staatlichkeit. Auf die SPD kann dabei allerdings kaum gesetzt werden. Sozialdemokraten waren schon immer eher Neo-Nationalisten und als Internationalisten nur aufs Proletariat und deren Interessen fixiert. Ob der nächste CDU-Kanzler an die Erfolge seiner großen Vorgänger in der Europa-Politik anknüpfen will ist offen, aber nicht ausgeschlossen. Die Grünen würden ihn dabei wohl jedenfalls unterstützen.

Beide Parteien, CDU und Grüne, sollten die übliche nationale Bedenkenträgerei überwinden und sich in ihrer Europapolitik auf die Geistesgeschichte und die historische Größe Europas als zentralem Bezugsrahmen der westlichen Zivilisation beziehen. Das gäbe ihrer ganzen Politik Gesicht und historisches Gewicht.

■ UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.