: Der stille Helfer des Ehepaars Eberle
Während des Zweiten Weltkriegs fanden Josef Eberle, der spätere Mitbegründer der „Stuttgarter Zeitung“, und seine jüdische Ehefrau Else Schutz beim Bahnbeamten Sebastian Imhof. Der Widerstand von Eisenbahnern gegen das NS-Regime ist auch Thema eines kommenden SWR-Films von Hermann G. Abmayr.
Von Melanie Axter↓
Erst 2017 brach die Tochter des Bahnbeamten das vereinbarte Stillschweigen zwischen Helfer und Geretteten. Gertrud Imhof (Name geändert) hatte als Kind erlebt, wie Josef Eberle und seine jüdische Frau Else von 1943 an bis Kriegsende bei ihren Eltern Schutz und Unterschlupf fanden. „Die Gespräche haben mir irgendwie gutgetan“, sagt die mittlerweile 87-jährige Stuttgarter Zeitzeugin. Ort des Geschehens war der Bahnhof „Wildpark“ und ein dazugehöriges Gebäude, in dem der Bahnhofsvorsteher Sebastian Imhof mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern lebte. Das kleine Ensemble an der Gäubahnlinie liegt direkt neben dem Rudolf-Sofien-Stift oberhalb der Heslacher Wasserfälle. Diese fließen durch eine Schlucht in der Heidenklinge hinab zu einer mannshohen Betonröhre, der sogenannten Pfaffendole. Von den Imhofs wurde diese bei Fliegeralarm als „Luftschutzbunker“ genutzt.
Seit 1936 lebte das Ehepaar Eberle im Sandweg 7 in Stuttgart-Heslach, nicht allzu weit entfernt von der Wildpark-Station. Als die Luftangriffe der Alliierten ab 1943 auch den Stuttgarter Süden trafen, suchten die Eberles einen alternativen Schutzraum. Denn als Jüdin war es Else Eberle untersagt, die öffentlichen Bunker zu nutzen. Gertrud Imhof beschreibt die erste Begegnung ihres Vaters mit den Eberles: „Der kleine Bahnhof hatte einen Fahrkartenschalter. Eines schönen Tages kamen ein Mann und eine Frau mit einem kleinen Hund namens Kasperle. Sie hatten erfahren, dass wir einen kleinen Bunker haben, den wir bei Fliegeralarm nutzen. In Heslach durften sie wegen ihres Hundes nicht in den Bunker, erklärten sie.“ Imhof hatte nichts gegen den Foxterrier einzuwenden und bot die Pfaffendole als Unterschlupf an.
Imhof wird gewarnt – und hilft trotzdem weiter
Als Imhofs Vorgesetzter von der Hilfsaktion seines Mitarbeiters erfuhr, zitierte er ihn zur Bahndirektion und warnte den Eisenbahner in einem vertraulichen Gespräch. Er erklärte ihm, wen er da in die Pfaffendole mit hineinnahm. „‚Sie haben doch Familie, seien Sie vorsichtig‘, hat er meinem Vater gesagt“, erzählt Gertrud Imhof. „Er hätte meinen Vater anzeigen können, aber es passierte gar nichts.“ Und sie fährt fort: „Mein Vater bat Herrn Eberle in sein Büro und es gab ein längeres Gespräch. Da hat er erzählt, dass seine Frau Jüdin ist und dass er beim Rundfunk war. Und dass er hat gehen müssen, weil er seine Frau nicht verlassen wollte.“
Doch nicht nur die Ehe mit einer Jüdin missfiel den Nationalsozialisten an Eberle. Man hatte auch nicht vergessen, dass der gelernte Buchhändler und Schriftsteller in seiner Funktion als Leiter der Vortragsabteilung beim Süddeutschen Rundfunk Reden von Adolf Hitler und Josef Goebbels im Auftrag des Südfunk-Überwachungsausschusses abgelehnt hatte. Auch Eberles Mitarbeit an Erich Schairers linksliberaler „Sonntags-Zeitung“ sowie seine spätere Funktion als Betriebsrat beim Rundfunk stießen den Nazis sauer auf. Nach deren Besetzung des Stuttgarter Funkhauses wurde er am 30. März 1933 aus „Gründen der politischen Betriebsumstellung“ entlassen.
Gertrud Imhof beschreibt ihren Vater als besonnen. Dennoch wagte der Stuttgarter Bahnbeamte viel. „Ich meine halt, dass mein Vater auch nicht mit dem Regime zufrieden war“, sagt sie, nicht damit, „was man mit den Juden gemacht hat“. Das nationalsozialistische Zerrbild des „Juden“ fiel bei den Imhofs jedenfalls, auch wenn der Eisenbahner NSDAP-Mitglied war, auf fruchtlosen Boden. Den Erzählungen von Gertrud Imhof zufolge war es vor allem das Mitgefühl mit dem Schicksal der Eberles, das ihre Eltern bewogen hatte zu helfen. Sebastian Imhof und seine Frau Klara entschieden, das Ehepaar auch weiterhin in der Pfaffendole zu beherbergen.
Seit 1938 führten die Eberles, die 1929 in Stuttgart geheiratet hatten und kinderlos geblieben waren, in der Terminologie der Nazis eine „privilegierte Mischehe“. Die Ehe mit einem „Arier“ bewahrte Else Eberle vor der zwangsweisen Umquartierung in eine „Judenwohnung“. Auch das Tragen des Judensterns blieb ihr erspart. Vor allem aber war sie von den ersten beiden Deportationen von Stuttgart aus 1941 und 1942 nicht betroffen.
Dennoch galten auch für Juden in einer privilegierten Mischehe einschränkende Bestimmungen. So durfte Else Eberle keine kulturellen Veranstaltungen oder Gaststätten mit der Aufschrift „Juden verboten“ besuchen oder musste ein Ausgehverbot einhalten. Der Tod des Ehemanns oder die Scheidung hätte für sie die Gefahr der Deportation bedeutet.
Nach Eberles Rauswurf beim Rundfunk musste das Ehepaar Hausdurchsuchungen und Verhöre über sich ergehen lassen. Schließlich kam Eberle im Mai 1933 in Schutzhaft ins KZ Heuberg. Als er nach sechs Wochen freikam, zog das Ehepaar zu Else Eberles Eltern nach Rexingen, wo sich der 32-Jährige als freier Schriftsteller betätigte. Doch der Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer 1936 brachte ihm das Schreibverbot. Seinen Lebensunterhalt sicherte schließlich eine Anstellung im US-Konsulat in Stuttgart.
So ging es von Rexingen wieder zurück in die schwäbische Metropole. Nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren und das Konsulat geschlossen wurde, verlor Eberle erneut seine Stelle. Verbindungen sollen ihm ab 1942 eine Beschäftigung als Korrespondent und Bibliothekar bei der Württembergischen Feuerversicherung ermöglicht haben.
Anfang 1945 taucht das Ehepaar unter
Als der Krieg so gut wie verloren war und die sowjetischen Truppen Auschwitz befreiten, schrieb die Gestapo Stuttgart an Else Eberle. Der Brief vom 27. Januar 1945, sein erbarmungsloses Amtsdeutsch lässt frösteln. Sie habe sich zum auswärtigen Arbeitseinsatz am Montag, den 12. Februar 1945 im Durchgangslager Bietigheim einzufinden, heißt es. Mitzubringen seien unter anderem Marschverpflegung für fünf Tage, ein Paar Arbeitsschuhe, ein Arbeitskleid, ein Napf, ein Trinkbecher, ein Löffel. Hinter dem auswärtigen Arbeitseinsatz verbarg sich die letzte Deportation von Juden aus Württemberg nach Theresienstadt. Else Eberle verlor endgültig den Schutz ihrer Mischehe. Die Eberles beschlossen unterzutauchen.
„Meine Eltern waren sich einig, man muss helfen“, sagt Gertrud Imhof und erzählt, wie diese das Ehepaar Eberle in der Bahnstation „Wildpark“ versteckten. „Im Bahnhof gab es eine große Bühne mit einer Leiter, die man anstellen musste. Da haben die Eberles übernachtet und gewohnt“, erklärt sie. Man habe Matratzen und Bettzeug hochgebracht und die beiden hätten die Leiter hochgezogen und die Dachbodentür geschlossen. Berührend ist, wenn Gertrud Imhof erzählt, dass Josef Eberle dem Eisenbahner während seiner Nachtschicht ab und zu Gesellschaft leistete und die beiden dann „miteinander politisiert“ hätten.
Else und Josef Eberle überlebten in ihrem Versteck. Als im April 1945 französische Truppen in Stuttgart einmarschierten, fühlten sie sich sicher und zogen für kurze Zeit zu den Imhofs ins Haus.
Bald schon ließen die Eberles die wohl finsterste Zeit ihres Lebens hinter sich. Bereits im Juni arbeitete Josef Eberle unter den US-Amerikanern für „Radio Stuttgart“. Am 17. September 1945 erhielt er zusammen mit Karl Ackermann und Henry Bernhard von der amerikanischen Militärregierung die Lizenz zur Herausgabe der „Stuttgarter Zeitung“. Es war ein fulminanter gesellschaftlicher Aufstieg. Ab und zu schauten die Eberles bei den Imhofs vorbei, brachten Orangen oder gezuckerte Kondensmilch mit, erinnert sich Gertrud Imhof. Später wurden die Imhofs eingeladen, um sich die noblen Wohnhäuser in Vaihingen oder später auf dem Frauenkopf anzuschauen. Allmählich löste sich aber der private Kontakt auf.
Als Gertrud Imhof und ihre ältere Schwester als kaufmännische Angestellte in der Lohn- und Gehaltsbuchhaltung der „Stuttgarter Zeitung“ arbeiteten, sollten die Ereignisse in der Wildpark-Station geheim bleiben. „Josef Eberle und mein Vater vereinbarten Stillschweigen“, sagt die Zeitzeugin und hielt sich bis zu ihrem 84. Lebensjahr daran.
Für den Filmemacher und Journalisten Hermann G. Abmayr ist es unverständlich, warum Eberle die mutige und riskante Tat des Eisenbahners Zeit seines Lebens unerwähnt ließ. Nun greift er den Fall Sebastian Imhof in seinem Dokumentarfilm „Eisenbahner im Widerstand“ auf. Abmayr schlägt vor, dass Imhof in der Gedenkstätte Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte Jerusalems, als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wird.
Die SWR-Dokumentation „Eisenbahner im Widerstand. Vergessene Gegner des NS-Regimes“von Hermann G. Abmayr wird am Sonntag, 9. Oktober, um 13.30 Uhr als Preview im Stuttgarter Kino Atelier im Bollwerk gezeigt. Der Filmemacher ist anwesend, Goggo Gensch moderiert. Im SWR-Fernsehen läuft die Doku als 45-Minuten-Fassung am 11. Oktober um 23.30 Uhr sowie als 60-Minuten-Fassung in zwei Teilen am 11. und 18. November (jeweils 13.35 Uhr).
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