■ Sieger der türkischen Kommunalwahlen sind die Islamisten: Der späte Preis des Putsches
In den Büros der islamistischen „Wohlfahrtspartei“ herrscht Jubelstimmung. Ein wenig demokratische Schminke genügte ihnen, um zur Massenpartei aufzusteigen. Die Islamisten sind die eindeutigen Gewinner der landesweiten Kommunalwahlen in der Türkei. In den sechsundsiebzig Provinzhauptstädten stellen sie nach den ersten Ergebnissen mindestens vierundzwanzig Bürgermeister. Vielleicht werden sogar demnächst – die Endergebnisse standen bei Redaktionsschluß noch nicht fest – die Hauptstadt Ankara und die Zehnmillionenmetropole Istanbul von islamistischen Bürgermeistern regiert. In Kurdistan blieben die Wahlboykotteure der PKK in der Minderheit. In fast allen kurdischen Städten werden islamistische Bürgermeister regieren.
Doch die Wahlerfolge der Mullahs sind nicht Ausdruck einer Islamisierung der Gesellschaft. Vielmehr hat die Ausweglosigkeit des herrschenden politischen Systems den doppelzüngigen Träumern, die im Gottesstaat das Paradies versprechen, den Weg geebnet. „Es gibt nur zwei Parteien in der Türkei. Die Systemparteien auf der einen, die Wohlfahrtspartei auf der anderen Seite“, hat der Chef der Wohlfahrtspartei, Necmettin Erbakan, immer wieder verkündet. Er hat recht behalten. Die Stimmabgabe für die Islamisten oder die faschistische MHP (Nationalistische Aktionspartei) war ein Votum gegen die Mitte.
Doch was für eine Mitte? Eine Mitte, die Schritt für Schritt die Militarisierung der Gesellschaft vorangetrieben hat. Eine Mitte, die den dreckigen Krieg in den kurdischen Regionen in die Hände des Militärs gelegt hat. Eine Mitte, die sich rühmt, kurdische Kollegen aus dem Parlament hinaus- und ins Gefängnis hineingeworfen zu haben. Eine Mitte, die die kritische linke Intelligenz als Terroristen vor Staatssicherheitsgerichte zerrt. Eine Mitte, die sich mit Islamisten über Strafrechtsparagraphen auseinandersetzt.
Letztendlich sind die erdrutschartigen Gewinne für die Islamisten Spätfolge des Militärputsches von 1980, der mit Panzern den linken Projekten den Garaus machte. Die sogenannten Parteien der Mitte, die danach zugelassen wurden, haben das militaristische System der Generäle nur fortgeführt, statt die Gesellschaft zu demokratisieren. Sie haben bei den Kommunalwahlen die Quittung erhalten. Die Verhältnisse in der Türkei schreien nach einem neuen gesellschaftlichen Kompromiß: Frieden in Kurdistan und das Ende der politischen Justiz. Doch die Herrschenden legen nur Brandsätze. Die Profiteure sind neue Brandstifter. Jene, die mit dem Schlachtruf „Tod den Ungläubigen“ in der zentralanatolischen Stadt Sivas Hotels in Brand steckten. Ömer Erzeren
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