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Archiv-Artikel

Der schwache Staat

Michel Wieviorka wagt sich an eine allgemeine Theorie der Gewalt. Ihm ist eine anregende und präzise argumentierende Studie gelungen, die dank vieler Beispiele anschaulich wird

VON CHRISTIAN SEMLER

Das buntscheckige Volk der Linken ist sich hierzulande vor allem in einem einig: Es lehnt Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ab. Das war bekanntlich nicht immer so. Noch in den 80er-Jahren wurde heftig über die Bedeutung und die Grenzen des staatlichen Gewaltmonopols gestritten. Zwar fanden linksterroristische Aktionen so gut wie keine Unterstützung mehr, nicht so sicher waren sich Linke jedoch, wenn bewaffnete Gewalt im nationalen Befreiungskampf oder zur sozialen Emanzipation in der Dritten Welt angewandt wurde.

Die Idee der „Gewaltfreiheit“ setzte sich letztlich durch, weil die Linke über den Charakter der Regime ernüchtert war, die ihren Erfolg dem bewaffneten Kampf zu verdanken hatten. Zudem war der programmatisch gewaltfreie Massenprotest der Ökobewegung offenkundig erfolgreich – und ebenso waren es die allesamt gewaltlosen demokratischen Revolutionen in Osteuropa.

1989/90 glaubten viele, nach der Auflösung der Blockkonfrontation ziehe dank internationaler Organisationen wie UNO und KSZE, dank Krisenprävention und Streitschlichtung ein Zeitalter des Friedens herauf. Ein bitterer Trugschluss, wie die Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte mit ihren zahlreichen Bürgerkriegen und Kriegen lehren, die auf dem Territorium zerfallener Reiche tobten. Seit dem 11. September 2001 ist auch dem öffentlichen Bewusstsein präsent, dass nichtstaatliche terroristische Netze oftmals die Initiative an sich gerissen haben. Der Welthegemon USA hat darauf mit extremer Gewaltanwendung reagiert.

Dies ist der politische Hintergrund für die Studie des französischen Soziologen Michel Wieviorka. Ihr Titel „Die Gewalt“ zeigt an, dass der Autor zu einer allgemeinen Theorie der Gewalt vorstoßen will, nachdem er bislang mit einer Reihe empirischer Arbeiten zum Terrorismus und zur Gewalt in Frankreichs Vorstädten hervorgetreten ist.

Ein ähnliches Unternehmen hatte vor einigen Jahren auch der Soziologe Wolfgang Sofsky gewagt. Aber im Gegensatz zu dessen Versuch, der apodiktisch, selbstherrlich und ohne jeden Rückgriff auf die Empirie oder auf theoretische Vorarbeiten daherkommt, verarbeitet Wieviorka Forschungsergebnisse aus dem angloamerikanischen wie aus dem frankophonen Kulturkreis. Seine Verallgemeinerungen ruhen auf einem überprüfbaren Fundament.

Im ersten Teil des Buches gibt der Autor einen Überblick über die Schwächung der Nationalstaaten als Inhaber des legitimen Gewaltmonopols. Wieviorka analysiert hier einen doppelten Souveränitätsverlust. Er entsteht einerseits, weil die ökonomischen Prozesse weltweit immer mehr miteinander verflochten sind. Und andererseits, weil die Hypermacht der USA die Staatenwelt zunehmend dominiert. Was die Lage im Innern der entwickelten Industriestaaten anlangt, so konstatiert Wieviorka einen Steuerungsverlust, der mit dem Zerfall des Wohlfahrtsstaates einhergeht.

Der Wohlfahrtsstaat stellte den Rahmen bereit für den institutionalisierten Klassenkampf, so dass die Polarität Arbeiterklasse kontra Kapital zum Faktor der sozialen Integration wie der Systemintegration wurde. Da die Arbeiterklasse sich auflöste, was die Globalisierung noch beschleunigte, brach eine Säule dieses Gebäudes weg. Wieviorka stellt hier den gesellschaftlichen Konflikt samt dessen Regelungspotenzial der regellosen Gewaltausübung gegenüber – in Anlehnung an die klassischen Thesen Georg Simmels zum Streit.

In zweiten Teil analysiert Wieviorka die zunehmende Bedeutung des Opfers in den gesellschaftlichen Diskursen. Während früher ein Rechtsbrecher der vorherrschenden Meinung zufolge in erster Linie die Ordnung des Staates verletzte, rückt jetzt das vernachlässigte Schicksal des Opfers national wie international in den Fokus des Interesses. Die Kehrseite dieser an sich positiven Entwicklung sieht Wieviorka darin, dass heute zahllose benachteiligte Menschen auch Opfer sein wollen, um die mit dieser Rolle verbundene Aufmerksamkeitsprämie einzustreichen.

Es kommt zu einer desaströsen Konkurrenz der Opfer. Wieviorka bringt das Vordringen dieser Opferrolle in einen systematischen Zusammenhang mit der Schwächung des Staates. Diese Annahme ist stark zu bezweifeln: Um der behaupteten Schwäche des Staates gegenüber dem internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität zu begegnen, werden schließlich die Sicherheitsapparate massiv aufgerüstet.

Und die Propagandathese „Wir sind alle potenzielle Opfer“ muss von dem realen Opferschutz abgehoben werden, der oft gegen die Sicherheits- und Ordnungsfetischisten durchgesetzt werden musste. Hier erweist sich, dass die Entscheidung Wieviorkas problematisch war, bei den Gewaltphänomenen von der Analyse der konkreten Formen staatlicher Gewaltanwendung abzusehen.

Im dritten Teil seiner Untersuchung versucht sich Wieviorka an einer Art Typologie des Gewalttäters und setzt an dessen Subjektivität an. Er stellt fest, dass das Subjekt sich jetzt wieder zurückgemeldet hat, nachdem es unter der Herrschaft des Strukturalismus fast verschwunden war. An der Subjektivität festzuhalten sei deshalb sinnvoll, weil sich sonst der Gewalttäter entweder nur als Produkt seiner sozialen Umwelt erklären lässt oder nur als pathologischer Einzelfall.

Entscheidend für Wieviorka ist hier das Subjekt, das Sinn produziert. Deshalb unterscheidet er auch: Es gibt Täter, die zur Gewalt greifen, weil ihnen der Sinn abhanden gekommen ist oder sich noch nicht eingestellt hat. Und es gibt Täter, die ihr Handeln aus einer Überfülle von Sinn bestimmen, was besonders bei den religiösen Eiferern der Fall ist. Schließlich handeln einige auch sinnfrei, weil sich ihnen die Dimension der Gewalt mangels Vorstellungsvermögen gar nicht erschließt. Beispielhaft dafür ist Adolf Eichmann, der nazistische Schreibtischtäter.

Wieviorkas Idealtypologie verfährt keineswegs schematisch, verweist auf Querverbindungen, lässt Vorsicht walten bei Schlussfolgerungen. Auch wenn der Test auf die realen Verhältnisse noch aussteht, ist ihm ein gedankenreiches Buch gelungen, das Soziologie, Geschichte und Jurisprudenz einbezieht. Außerdem wird es durch eine Vielzahl von Beispielen lebendig, ohne die Systematik aus dem Blick zu verlieren.

Michel Wieviorka: „Die Gewalt“. Aus dem Französischen von Michael Bayer. Hamburger Edition, Hamburg 2006, 230 Seiten, 25 Euro