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Archiv-Artikel

Der letzte Zeuge

Vor 63 Jahren wurden 108 Einwohner des toskanischen Dorfes Vallucciole systematisch umgebracht. Die Mörder handelten auf Befehl der Wehrmacht. Aber es waren nicht nur Deutsche

AUS STIA LUCAS VOGELSANG

Ein Dutzend alter Männer sitzt auf weißen Plastikstühlen im Halbschatten einer weinroten Markise vor der Bar „Moderno“. Die Bar ist gleichzeitig auch Tankstelle und Umschlagplatz für Neuigkeiten in der Kleinstadt Stia, rund 70 Kilometer südöstlich von Florenz. Alfredo Gambineri hat ein wenig abseits auf einer alten Holzbank Platz genommen und seine Hände auf einen dunkelbraunen Stock gestützt. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fallen auf ein Gesicht, das sein tatsächliches Alter für sich behält. Seit über sechzig Jahren kommt der 91-Jährige jeden Tag gegen Mittag in die Bar, um Karten zu spielen. Und er hat fast ebenso lange kein Spiel mehr verloren, behaupten die Männer auf den weißen Stühlen.

An einem der runden Tische in der Bar findet sicht dennoch wieder ein Herausforderer. Ohne Regung mischt Gambineri die Karten, schweigend spielen die beiden Männer ihr Spiel. In Alfredos Rücken blinken die winzigen Lämpchen der Spielautomaten. Neonleuchtreklame für italienischen Kaffee und Getränke spiegelt sich in der gläsernen Theke. Alfredo gewinnt auch diesmal. Teilnahmslos reicht er seinem Gegenüber die Hand und verlässt die Bar. Ein Schild auf der anderen Straßenseite weist den Weg nach Vallucciole, Gambineris Geburtsort. Obwohl der nur sieben Kilometer entfernt in den Hügeln liegt, war der alte Mann fast drei Jahre nicht mehr dort. Er meidet den Ort, an dem seine Frau, seine Mutter, seine Großeltern und sein drei Monate alter Sohn ermordet wurden.

Am 11. April 1944 wurden bei Vallucciole in der Toskana zwei Offiziere der deutschen Wehrmacht von italienischen Partisanen erschossen. Zwei Tage danach überfiel die Panzerdivision „Hermann Göring“ das Bergdorf und tötete 108 Menschen, fast ausschließlich Frauen und Kinder.

„Die Deutschen kamen früh, ganz früh am Morgen, noch vor Tagesanbruch.“ Als Alfredo Gambineri in seiner schmalen Küche zu sprechen beginnt, zittert seine Stimme. Danach wird sie wieder gleichmäßig. Doch sein Gesichtsausdruck verrät, wie sehr es ihn anstrengt, sich erinnern zu müssen. Der 13. April 1944 war ein Karsamstag. der Forstarbeiter und seine Familie wurden aus dem Schlaf gerissen: Durch die Wälder von Vallucciole hallten Motorengeräusche, Gewehrsalven und Stakkato-Kommandos. Gambineri ahnte, es waren die Deutschen: „Wir hatten irgendwie erwartet, dass sie kommen.“

Der Überfall der Deutschen Panzerdivision „Hermann Göring“ auf das Dorf in der Nähe der Arno-Quellen war die Antwort auf einen Partisanenanschlag zwei Tage zuvor. Zwei deutsche Offiziere waren wenige Kilometer vom Dorf entfernt in einen Hinterhalt geraten und erschossen worden. Ein dritter deutscher Soldat hatte sich schwer verletzt nach Stia retten können. Der deutsche Militärposten alarmierte die nächstgelegene, bei Bologna stationierte Einheit der Wehrmacht.

Bei den Bewohnern von Vallucciole, das oberhalb einer Straße lag, die für den Rückzug der deutschen Truppen von strategischer Bedeutung war, wuchs die Angst vor einer Vergeltungsaktion. Für jeden erschossenen Soldaten hatte die Wehrmacht an anderen Orten zehn Partisanen hingerichtet. „Wir dachten“, sagt Gambineri, „die Deutschen würden sich nur an Partisanen rächen. Doch die hatten sich längst in die Berge zurückgezogen.“

Vom Fenster seines Schlafzimmers aus sah er, wie sich Flammen durch sein Dorf fraßen. Er schickte seine Mutter, die Großeltern und seine Frau mit dem gerade drei Monate alten Säugling hinunter in den Keller. Doch noch bevor sie die Küche erreichten, traten drei Wehrmachtssoldaten die Tür ein. Sie prügelten Alfredo und die anderen Bewohner aus dem Haus. Ihn trieben sie, getrennt von seiner Familie, auf den höher gelegenen Dorfplatz. „Einige Soldaten zeigten mit dem Gewehr auf mich und brüllten: ‚Komm, komm!‘ Dann stand meine Mutter plötzlich vor mir. Sie wollte wissen, was jetzt mit mir passiert, wohin sie mich bringen werden. Ich habe ihr nur noch gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen soll.“

Gambineri und sieben andere junge Männer aus dem Dorf wurden mit Gewehren und Munition beladen. Sie sollten die zentnerschwere Ausrüstung den Berg hinauf in die noch weiter entfernten Weiler tragen. Alfredo, damals 29 und durch die Arbeit im Wald kräftig gebaut, war ein idealer Träger.

„Mit den Deutschen sind wir dann von Dorf zu Dorf gezogen.“ Doch einige der Munitionsträger schafften es nicht einmal bis ins Nachbardorf Monte di Gianni. „Einer von uns weigerte sich, die Waffen weiter zu schleppen. Er hat ihnen die Gewehre einfach vor die Füße geworfen. Sie haben ihn sofort erschossen.“ Dass Alfredo überlebte und heute der letzte Zeuge der Gräueltaten in Vallucciole ist, verdankt er der Willkür eines deutschen Kommandanten, der irgendwann unvermittelt anhalten und fünf der acht Waffenträger erschießen ließ. Als die Reihe an Alfredo war, hob der Deutsche die Hand und bedeutete, es sei genug. Ein fragender Blick. Ein schiefes Lächeln. Die drei Männer rannten los. „Ich lief um mein Leben und hoffte, dass die Deutschen ihre Meinung nicht ändern würden“, sagt er.

Es bleibt eine Weile still, dann bittet Gambineri, das Tonband abzustellen. „Wenn ich die Wahrheit sage, sperren sie mich ein.“ Dann gibt er seine Wahrheit, von der er fürchtet, sie werde ihn einsam machen, doch zu Protokkoll. „Unter den Mördern waren viele italienische Faschisten aus Stia. Ihnen war Vallucciole als Partisanennest schon lange ein Dorn im Auge. Jetzt nutzten sie die Gelegenheit, um im Schutz der Deutschen ihren Hass auszuleben.“ Über die Beteiligung italienischer Verbündeter redete man im Nachkriegsitalien kaum. Und in Stia schon gar nicht. Nicht damals, nicht heute. Vielleicht, weil es zu schwer gewesen wäre, gemeinsam in der kleinen Stadt weiterzuleben. So waren die Täter nur die „germanischen Barbaren“, wie auf manchen Grabsteinen steht. Menschen ohne Gesicht und Namen.

Nachdem Gamibineri die Nacht nach dem Massaker in Stia verbracht hatte, wollte er am anderen Morgen zurück in sein Dorf. Auf dem Weg traf er einen Italiener in Wehrmachtsuniform. „Er sagte mir, ich brauchte nicht zurück, im Dorf seien alle tot.“ Gambineri fand nur noch ein Geisterdorf vor. Leichengestank lag wie ein Schleier über Vallucciole. In den Kadaverhaufen konnte Alfredo Gambineri die einzelnen Menschen nicht auseinanderhalten. Viele von ihnen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ein blinder Nachbar lag mit dem Gesicht im Dreck der Straße.

Von seiner Familie fand er niemanden mehr. Später sah er das Foto seines kleinen Sohnes Viviano: ein Säugling in einer Blutlache, der eingehüllt in eine Wolldecke am Straßenrand liegt, durch einen gezielten Kopfschuss getötet. Ein Freund Alfredos hatte das Foto gemacht, als die Deutschen das Dorf verlassen hatten. Nun hängt es als emaillierte Medaille auf dem Friedhof von Vallucciole. Zusammen mit 107 anderen Bildern auf grauen, kaum noch lesbaren Gedenktafeln.

Vor drei Jahren ist Alfredo das letzte Mal dort gewesen. Doch heute will er den schweren Weg noch einmal gehen, „weil es mit meinen 91 Jahren der letzte Besuch sein könnte“, sagt er und lächelt erstmals. Für einen kurzen Moment kehrt der junge Mann in sein Gesicht zurück. Seine Stieftochter Annamaria telefoniert kurz mit dem Pfarrer, der die Schlüssel zur Kapelle Valluccioles verwahrt. Eigentlich werden sie nur einmal im Jahr gebraucht, wenn die Bewohner von Stia der Opfer des 13. April mit einem Gottesdienst gedenken. Ansonsten ist Vallucciole nur noch ein Feriendorf. In den kleinen, dreistöckigen Häusern, die aufwendig restauriert wurden, verbringen heute die Großstädter aus Florenz ihre Wochenenden und Kurzurlaube.

In seinem mattblauen Sonntagsanzug steht Alfredo Gambineri in der kleinen Kapelle. Seine Lippen bewegen sich unmerklich. Leicht nach vorn gebeugt, überfliegt er die Inschrift zweier Gedenktafeln. Vor seinen Füßen ist eine Grabplatte in den Boden eingelassen. Er nimmt eine Kerze und hält den Docht in die Streichholzflamme, stellt das kleine Gefäß mit dem Totenlicht zu den anderen. Fünf Kerzen wird er nach und nach anzünden. Die Namen seiner Großeltern, seiner Mutter, von Frau und Kind sind wie die der anderen Opfer des Massakers von Vallucciole in helle Tafeln aus Kalkstein eingraviert.

Hier unter der Kirche liegen die Knochen“, erklärt Alfredo, „auf dem Friedhof gibt es die Grabstellen.“ Er schließt die schwere Kapellentür hinter sich und tritt aus dem Schatten auf die Straße. Der Friedhof von Vallucciole ist ein ruhiger Ort hinter weißgetünchten Mauern. An vielen Gräbern sind die Blumen frisch, die Kerzen in den Totenlichtern flackern unmerklich im Licht der Sonne, die tief zwischen den Hügeln steht. Alfredo streicht sanft über die kleinen, vergilbten Fotografien in den Medaillen, die den in Stein gehauenen Namen ihre Gesichter zurückgeben. „Hier liegen Gambineri Attilio und Michelacci Maria, am 13. April 1944 auf barbarische Weise von deutschen Faschisten hingerichtet.“

In Vallucciole ermordete die Wehrmacht in Italien erstmals unterschiedslos Frauen, Kinder und Säuglinge. Der gezielte Kampf gegen die Zivilbevölkerung, dem in den Folgemonaten auch in Sant’Anna und Marzabotto Hunderte zum Opfer fielen, hat hier seinen Anfang genommen. Nur die im Vergleich zu den späteren Massenhinrichtungen geringeren Opferzahlen haben dazu geführt, dass dieses Massaker bis heute nahezu unbekannt geblieben ist. Gegen die Verantwortlichen wurde nie ein Strafverfahren eröffnet.

LUCAS VOGELSANG, 21, ist Absolvent der Zeitenspiegel-Reportageschule und lebt als freier Journalist in Berlin