Der „homo precarius“ lebt mit der Unsicherheit. Aber wie? Heute: Lilli Neumann, 32, Amerikanistin : „Ich habe keine Angst vor dem Dispo“
Noch vor einem Jahr schien Lilli Neumanns (Name geändert) beruflicher Weg eine Gerade zu sein. Sie hatte sich für eine akademische Karriere in der Amerikanistik entschieden, mit den üblichen Stationen: Promotion, Lehraufträge, Habilitation und am Ende eine ausbaufähige Stelle am Institut oder einem Sonderforschungsbereich. „Ich dachte immer, dass ich mein ganzes Leben lang wissenschaftlich arbeiten will“, sagt die 32-Jährige, die sich selbst als perfektionistisches Energiebündel beschreibt.
Als Lilli Neumann in diesem Jahr ein zweijähriges Promotionsstipendium erhielt, schien der Einstieg in die Unikarriere geebnet. Da sie vom Stipendium alleine nicht leben konnte, übernahm Neumann anfallende Assistenzarbeiten für ihre Professorin und gab einen Kurs fürs Grundstudium. Das brachte ihr zwar akademische Pluspunkte, aber wenig Geld. „Ein Lehrauftrag hört sich toll an“, sagt sie, „aber 400 Euro im Semester sind eher eine Aufwandsentschädigung. Viele in meinem Kolleg müssen nebenher nichtwissenschaftlich arbeiten.“
Lilli Neumann fand einen Nebenjob als Regieassistentin am Theater. Seitdem stückelt sie sich ihren Lebensunterhalt aus Stipendium, Assistententätigkeit, Lehraufträgen und Theaterprojekten zusammen. Es sind oft lange Arbeitstage zwischen Schreibtisch, Institut und Probebühne. Aber sie würde nie auf die Idee kommen, sich zu beklagen. Ihre wirtschaftlich prekäre Lebenslage sieht sie als Privileg. Lilli Neumann genießt das ständige Hin-und-Herwechseln zwischen verschiedenen Arbeitssituationen: „Jeder Job fordert eine andere Seite meiner Persönlichkeit.“
Dass ungewiss ist, was übermorgen kommt, diese Erfahrung hat die Ostdeutsche schon einmal gemacht. Die allgegenwärtige Angst vor unsicheren Lebensperspektiven und sozialem Abstieg versteht sie nicht. „Die Gespenster der Prekarisierung schrecken mich nicht. Ich habe keine Angst vor dem Dispo.“
Stattdessen genießt sie die Freiheit, brüchig zu leben. Der Theater-Nebenjob hat in der ehrgeizigen Wissenschaftlerin die Lebenskünstlerin erweckt. „Früher brütete ich oft einen ganzen Tag an einem einzigen Satz“, sagt sie. „Heute erledige ich an einem Tag drei verschiedene Sachen.“ Zwar bewirbt sie sich weiterhin auf die wenigen Viertel- oder Projektstellen, die für junge Wissenschaftler oft die einzige Chance auf Einstieg in den Unibetrieb sind. Aber den Gedanken an eine Vollzeit-Unikarriere hat sie aufgegeben. Die Sicherheit, noch eine andere Zukunftsperspektive in der Hinterhand zu haben, gibt Lilli Neumann den nötigen Abstand zum Unibetrieb. „Durch meine Theatererfahrung betrachte ich die Unikarriere als eine Art Spiel“, erzählt sie. „Sich mit den richtigen Leuten umgeben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und dann in eine Stelle rutschen. Das sind die Spielregeln.“ Selbst spielt sie nur noch halb mit: Das Theater oder ihre persönliche Freiheit würde sie für eine sichere Zukunft nicht opfern. „Im Notfall gehe ich halt wieder kellnern, wie im Studium“, sagt sie. „Irgendwas findet sich immer. Und mir macht eigentlich jede Arbeit Spaß.“
NINA APIN