: Der halbe Meister
■ Ödön von Horváths »Die Unbekannte aus der Seine« im Gorki Theater
Die Totenmaske einer jungen Frau mit rätselhaftem Lächeln erregte in den zwanziger und dreißiger Jahren romantische Gemüter, weckte erotische Gefühle, wurde gar zu einer Kultfigur, die, in vielfacher Ausfertigung, so manche Vitrine zierte: Mona Lisa für Kleinbürger. Wer war »Die Unbekannte aus der Seine«, tatsächlich eine Selbstmörderin oder die geniale Erfindung eines Kunsthändlers?
Ödön von Horváth, der »Die Unbekannte aus der Seine« zur Titelfigur einer Komödie machte, hat ihr die Vorgeschichte mitgegeben: Die junge Frau, ohne Beruf und Wohnung, sucht den Tod im Wasser nicht aus materieller Not, sondern weil sie in ihrer unbedingten Liebe getäuscht wurde. Das Stück aus dem Jahr 1933, das erst 1949, elf Jahre nach Horváths Tod, in Wien uraufgeführt und in Berlin, so scheint es, noch nie gespielt wurde, hatte am Mittwoch im Maxim Gorki Theater Premiere.
Regie führte der Schaubühnen- Schauspieler Ernst Stötzner, seit über zehn Jahren eine feste Größe im Ensemble. Vor zweieinhalb Jahren gab er an der Schaubühne sein Regie- Debüt mit Heimweh von Franz Jung. Die Ausgrabung führte nicht zur Wiederentdeckung des expressionistischen Schriftstellers, doch die stimmungsvollen Bilder der Inszenierung prägen sich ein.
Für seine zweite Regiearbeit hat sich Stötzner ein anderes schwieriges Stück vorgenommen. Die Unbekannte aus der Seine, im selben Jahr wie Glaube Liebe Hoffnung entstanden, markiert Horváths Übergang von der genauen Beobachtung der Realität im kleinbürgerlichen Umfeld zum Mystischen, Okkulten, Märchenhaften. Die sprachliche und dramaturgische Meisterschaft der vier »großen« Volksstücke erreicht die Komödie nicht. — Die Unbekannte aus der Seine bringt auf den ersten Blick manche Wiederbegegnung mit dem Horváthschen Zungenschlag und dem Personal seiner Volksstücke. Schauplatz ist eine kleine Straße in einer großen Stadt mit einem Blumenladen und einem Uhrmachergeschäft. In Ann Schwerdtles Bühnenbild hat die idyllische Szenerie gewaltige Risse, und im Hintergrund schweben dunkle Wolken.
Hinter den Mauern wohnen Horváth-typische Kleinbürger, die alle auf die Straße stürzen, als ein Mord geschehen ist, in Nachtgewand und Unterhosen. Ernst Stötzner hat das Komische aus dem Text herausgekitzelt, pinselt treffende Karikaturen, läßt sogar Ansätze von Derbheit und Slapstick zu, ohne daß sich die Gags verselbständigen.
Stötzner hat ein Gespür für die Balance zwischen Banalität und sentimentaler Wirkung. Während die Hausgemeinschaft noch ganz aufgeregt einen Auflauf bildet, den ein Polizist zu zerstreuen sucht, kommt ein Betrunkener vorbei, ein sehnsuchtsvolles Lied lallend. Und alle stimmen sie ein, auch der Polizist, erst ganz leise, dann zum Chorgesang anschwellend, ein großartiger Moment.
Die Unbekannte wandelt indessen nicht als somnambuler (Schutz)Engel durch die nächtliche Weltstadt. Margot Vuga spielt sie sehr als Frau von heute und liefert damit eigentlich keinen Grund für ihren Selbstmord. Die träumerische und naive, aber durchaus selbstbewußte junge Frau steht mit beiden Beinen auf der Erde und weiß, was sie will, besser: wen. Albert nämlich, den Strizzi mit Sonnenbrille (Uwe Kokisch), der bei einem Einbruch im Uhrmacherladen versehentlich zum Mörder wird.
Ganz ohne Gewissensbisse verschafft sie ihm ein Alibi. Doch in derselben langwierigen Szene, für deren mystische Düsternis Stötzner keine überzeugende Stimmung findet, muß sie mit ansehen, wie sich Albert doch wieder Irene zuwendet.
Das ist die handfeste Blumenhändlerin, die mit ihrem verklemmten Spießer Ernst (sicher nicht ohne Selbstironie fast ein Ebenbild des regieführenden Ernst) nicht glücklich wurde. Swetlana Schönfeld und Götz Schubert machen aus diesem Paar ein komödiantisches Kabinettstückchen.
Weitere Glanzlichter im Ensemble — etwa Katka Kurze als spitzzüngige Hausmeisterstochter oder Daniel Minetti als Bräutigam mit Leidensmiene — können dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die zwiespältige »Unbekannte« eben nur ein halber Horváth ist. Herzlicher, anhaltender Beifall bei der Premiere. Ortrun Egelkraut
Ödön von Horváth: Die Unbekannte aus der Seine, Regie: Ernst Stötzner, Maxim Gorki Theater. Nächste Vorstellungen: 16. und 24. Mai, 19.30 Uhr.
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